Schoko-Nikoläuse in den Supermärkten, Glühweinstände in der Altstadt und Wham’s „Last Christmas“ ganz weit oben in den Google-Trends – alle Zeichen stehen auf Weihnachten! Was besinnlich klingt, bedeutet in der Realität oft Stress: Plätzchen backen mit den Kindern, Basteln für den Weihnachtsmarkt in der Schule, jedes Wochenende verplant mit einer anderen Weihnachtsfeier – und was schenken wir eigentlich Tante Maria und Onkel Klaus?
Insbesondere für Frauen* und Mütter kann die Vorweihnachtszeit eine enorme Belastung mit sich bringen. Schuld daran ist der sogenannte “Mental Load”. Linda Leinweber ist studierte Psychologin, systemische Coachin und ausgebildete Hypnose-Therapeutin. In Einzelgesprächen, Coachings und Workshops hilft sie ihren Klient*innen dabei, mental gesund zu bleiben. Sie hat sich zur Aufgabe gemacht, psychische Gesundheit zu entstigmatisieren und teilt auf ihren Social Media-Kanälen Infos zum Thema, persönliche Einblicke und konkrete Tipps wie wir uns selbst besser verstehen. Wir haben Linda-Marlen Leinweber gefragt, wie wir Mental Load erkennen und was wir ganz konkret tun können, um nicht mit einem Burnout ins neue Jahr zu starten.
Linda-Marlen Leinweber: Mental Load ist im Prinzip die nicht enden-wollende To-Do-Liste in unserem Kopf: das ständige Gedankenkreisen um Dinge, die noch erledigt oder überwacht werden müssen. Vergleicht man es mit der Erwerbsarbeit, dann bist du Projektmanager*in und Projektumsetzer*in in einem. Allerdings gilt es hier, dein gesamtes Leben zu managen: Haushalt, Beziehung, Familie, Freund*innen und on top noch die To Do’s im Job.
Charakteristisch ist, dass Mental Load nicht nur die Aufgabe betrifft, die umgesetzt wird, sondern auch die Planung davor oder Kontrolle danach. Machen wir es an einem Beispiel fest: Nehmen wir mal an, der Mann in der Beziehung geht immer einkaufen. Vor dem eigentlichen Einkauf – womöglich auch der Weihnachtseinkauf – braucht es schon einen früheren Prozess: Jemand muss sich Gedanken gemacht haben, was an den Feiertagen gegessen werden soll, welche Lebensmittel fehlen, was in welchem Supermarkt gekauft werden soll und wann überhaupt der beste Zeitpunkt ist, um den Einkauf zu machen, damit er nicht mit anderen Aktivitäten, die in der Woche noch anstehen, kollidiert. Das alles sind Dinge, die in den meisten Fällen die Frau* übernimmt.
Frauen* unter 34 Jahren mit Kindern unter sechs Jahren leisten bis zu 110 % mehr Care-Arbeit als Männer.
Nein, grundsätzlich kann jede*r unter den Folgen der unsichtbaren Aufgaben-Last leiden. Studienergebnisse zeigen jedoch, dass der Mental Load bei Frauen* deutlich höher ist als bei Männern. Man hat gesehen, dass Frauen* unter 34 Jahren mit Kindern unter sechs Jahren bis zu 110 % mehr Care-Arbeit leisten als Männer.
Das hängt vor allem mit dem historisch gewachsenen Bild der Frau* als Care-Geberin zusammen und ist auch heute noch die Rolle, in die viele Frauen* oft automatisch rutschen, wenn sie sich im Vorhinein keine konkreten Gedanken um die Aufteilung der Care-Arbeit gemacht haben.
Statistiken zeigen, dass der Großteil der Care-Arbeit immer noch von Frauen* übernommen wird. Wissenschaftler*innen sprechen in dem Zusammenhang von dem “Gender-Care-Gap“. Die unterbewussten Rollen-Klischees à la “Frauen liegt das im Blut” oder “Es ist ganz natürlich, dass Kinder der Mutter näher sind als dem Vater” sind tief in uns verankert. Immer dann, wenn wir als Frau* an Wendepunkten in unserem Leben sind – Zusammenziehen mit dem Partner, Heirat oder Kinder – und uns im Vorhinein nicht gemeinsam hingesetzt und genau besprochen haben, wer eigentlich was übernimmt, dann laufen wir Gefahr, dass diese implizierten alten Muster greifen und über unsere Zukunft bestimmen.
Wenn wir nicht konkret darüber sprechen, sind die unterbewussten Rollenbilder oft die Antwort auf die unbeantworteten Fragen. Und dann ist es “klar”, dass die Frau* sich um das Kind kümmert, dass die Frau* in Teilzeit geht und dass die Frau* sich um den Haushalt kümmert. Nur drei Prozent der Frauen* in Deutschland, also ein sehr sehr kleiner Teil – aber es gibt sie – sind Alleinverdienerinnen.
Und selbst da, wo die Frau* den Löwenanteil nach Hause bringt, herrscht etwas vor, das sich “Ökonomie der Dankbarkeit nennt”: Die Frau* bekommt ein schlechtes Gewissen, dass sie so wenig zu Hause ist und sich so wenig um die Kinder kümmern kann. Sie nimmt an, dass es dem Mann, der gefühlt die “niedere Tätigkeit” ausübt, eh schon schlecht geht, und fühlt sich daher verpflichtet – zusätzlich zum Leistungsdruck auf der Arbeit – mehr im Haushalt zu machen.
Zu wissen, dass es diese Tendenzen und Strömungen gibt, die uns alle betreffen, kann entlastend wirken. Es kann dabei helfen, zu erkennen, dass ich nicht selbst daran schuld bin, wenn ich mich überfordert fühle.
Ein deutliches Anzeichen ist der tiefe Erschöpfungszustand: Die kleinsten Aufgaben werden als extrem anstrengend wahrgenommen und ziehen sich in die Länge. Eine Kollegin, die Diplom-Psychologin Patricia Cammarata, hat zu dem Thema ein sehr gutes Buch geschrieben.
Sie war selbst von zu hohem Mental Load betroffen und beschreibt in einer Szene anschaulich, wie überwältigend sich diese Erschöpfung anfühlen kann: Sie war im Winter unterwegs in Berlin auf dem Alexanderplatz – um sie herum tausend Menschen in Eile. Plötzlich verspürte sie den starken Drang, sich mitten in der Menschenmasse auf den kalten Boden zu legen. Die Vorstellung der kühlen Steinplatten auf ihrer Haut war so verlockend – sie wollte einfach nur die Passant*innen an sich vorbeiziehen lassen und für einen Moment den “Pause-Knopf“ drücken.
Im schlimmsten Fall mündet die andauernde Überforderung in einem Burnout, Depressionen oder anderen psychischen Erkrankungen.
Neben der Erschöpfung können auch angespannte Beziehungen ein Indikator sein. “Überforderung führt zu Forderung” – bedeutet, dass man mit den Menschen in seiner Umgebung häufig sehr anklagend wird, wenn die psychische Belastung zu groß wird. Diese Reizbarkeit kann sich in Gefühlsausbrüchen äußern: Zum Beispiel wird man schneller wütend oder aber plötzlich weinerlich.
Im schlimmsten Fall mündet die andauernde Überforderung in einem Burnout, Depressionen oder anderen psychischen Erkrankungen. Es fehlt an gesunden Bewältigungsstrategien, die den Stress wirklich abbauen. Aufgrund des gefühlt omnipräsenten Zeitmangels neigen wir zu ungesunden Bewältigungsversuchen wie der Griff zum täglichen Wein oder Bier, dem Verdrängen oder dem innerlichen Ertauben.
Frühwarnsignale können sich auch in Schlafproblemen, Verdauungsbeschwerden, Hautirritationen, Rücken- und Nackenverspannungen oder genereller Lustlosigkeit zeigen.
Als ersten Schritt halte ich es für wichtig, mit der*dem Partner*in oder der Familie zu sprechen. Um die unsichtbaren Aufgaben sichtbar zu machen, sollten sie einmal gesammelt und festgehalten werden – auf einem Blatt Papier oder in einer Excel-Tabelle zum Beispiel.
Im Anschluss können die Aufgaben dann neu und vor allem fairer verteilt werden. In unserem Alltag können wir bewusster darauf achten, unsere Zeit aktiv zu gestalten und nicht automatisch die ausgesprochenen oder unausgesprochenen Wünsche unseres Umfelds zu erfüllen. Wenn ich beispielsweise mit einer*einem Freund*in verabredet bin, aber eigentlich noch viel zu tun habe, kann ich sie durchaus fragen, ob anstelle des Kaffee-Dates auch das gemeinsame Aufbauen eines Schranks für sie in Ordnung wäre.
Natürlich schreit vielleicht nicht jeder direkt “Ja!”, aber die Person, die darauf Lust hat, gibt es vielleicht unter deinen Freund*innen. Wir neigen gerne dazu, die Leute in unserem Umfeld zu unterschätzen: Menschen helfen von Natur aus gerne! Beim Helfenden werden nämlich Glückshormone freigesetzt. Das sage ich mir selbst übrigens auch, wenn ich wieder Probleme damit habe, um Hilfe zu bitten. (lacht)
Wir können also durchaus mutig rangehen und – statt uns für ein klassisches Freund*innen-Date alles freizuschaufeln – auch mal out of the Box denken.
Wenn alles nicht hilft, weil die Belastung schon über längere Zeit zu groß geworden ist, dann ist es immer ratsam, sich von außen Hilfe zu holen: Das kann eine Psychotherapie, eine Paarberatung oder ein Mental Coaching sein. So lernt man, die Perspektive zu wechseln und aus dieser “ich habe was falsch gemacht” oder “ich bin schuld daran, dass ich jetzt bin, wo ich bin”-Haltung rauszukommen. Es tut außerdem gut, eine Stunde in der Woche zu haben, die nur mir gehört und die Zeit zum Reflektieren lässt.
Wir sollten uns die Frage stellen: Was ist mir an Weihnachten eigentlich wirklich wichtig? Und dann gilt es abzuwägen.
Präventiv können wir einiges verändern, indem wir uns frühzeitig Gedanken machen. Bevor wir also wieder ganz automatisch zum Feuer Löschen übergehen, sollten wir uns die Frage stellen: “Was ist mir an Weihnachten eigentlich wichtig?” Und dann gilt es abzuwägen: Ist es wirklich nur ein schönes Weihnachtsfest, wenn die Wohnung aus allen Ecken blinkt und blitzt? Oder ist es nicht wichtiger, dass wir zusammen ausgelassen sind und eine gute Zeit haben? Und was brauche ich eigentlich, damit ich ausgelassen sein kann?
Wenn ich mich dann zu sehr an dem Ideal einer perfekt geputzten Wohnung als Voraussetzung für ein schönes Weihnachtsfest festhalte, mache ich es mir dadurch schnell kaputt. In den sozialen Medien werden wir natürlich ständig mit den perfekten Weihnachtsbildern der anderen bombardiert und rutschen leicht ins Vergleichen ab. Da hilft es, sich bewusst zu machen, dass dies nur Ausschnitte sind – und niemals die gesamte Realität.
Was die konkreten Aufgaben betrifft, hilft es auch hier wieder, mit einem Höchstmaß an Transparenz an die Sache zu gehen: Also einmal alle Aufgaben sammeln und überlegen, wer was übernehmen möchte. Ganz wichtig ist dabei ist, den anderen zu vertrauen und auf Augenhöhe zu kommunizieren. Man rutscht schnell in die Rolle der Projektmanagerin, die die Projektmitarbeiter*innen koordiniert. Wir sind jedoch alle Projektmitarbeiter*innen: Alle haben ihr Aufgabenpaket und alle kontrollieren den Erfüllungsgrad ihrer Aufgaben.
Manchmal ist es schwierig, eine bestimmte Aufgabe abzugeben, in der er oder sie vorher Expert*in war. Mal angenommen, ich habe immer die Plätzchen gebacken und weiß “meine Plätzchen schmecken am besten“, jetzt hat aber mein Sohn diese Aufgabe übernommen. Dann ist es wichtig, dass ich nicht ständig einschreite und sage “Achte mal auf X,Y,Z”, denn so degradiere ich meinen Sohn zum Praktikanten.
Wir sind alle auf Augenhöhe und nur wenn er mich danach fragt, sollte ich Ratschläge geben. Mische ich mich die ganze Zeit ein, wird er nie die Chance haben, richtig in die Rolle hineinzuwachsen. Das Gleiche gilt übrigens auch für meine*n Partner*in. Und das ist natürlich für den- oder diejenige*n, die das bisher perfekt umgesetzt haben, eine große Herausforderung. Gleichzeitig ist es notwendig, den anderen den Raum zu geben, etwas dazuzulernen – sonst wirst du auf ewig die Managerin bleiben.
Collage: Kaja Paradiek, Fotos: Stefan Klüter (Porträt) / Adobe Stock