Immer wieder hört oder liest man, dass Menschen als „Narzissten“ beschrieben werden. Aber was meint der Begriff im psychologischen Sinne wirklich? Und wie verhalten sich narzisstische Menschen, wenn sie Mutter oder Vater werden? Welche Verhaltensmuster sind typisch für narzisstische Eltern? Und warum bekommt gerade ersteres, die narzisstische Mutter, immer wieder so viel Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit? Wir haben mit Diplom-Psychologin Sonia Kaftan darüber gesprochen, an welchen Verhaltensmustern sich narzisstische Eltern erkennen lassen, welche Auswirkungen ihr Verhalten auf ihr Kind hat, und wie sich Betroffene als Erwachsene von ihren Prägungen frei machen können.
Sonia Kaftan: Der volle Name dieser Störung heißt „narzisstische Persönlichkeitsstörung“. Da fängt das allgemeine Missverständnis schon an, denn es ist häufig von „Narzissmus“ die Rede. Wir alle haben narzisstische Anteile und die brauchen wir auch, um unser Leben zu bestreiten. Das ist wie ein Volume-Regler an einer Musikanlage: Der Narzissmus kann lauter oder leiser sein.
Man macht da grob eine Dreiteilung: Es gibt den unauffälligen Bereich, einen mittleren Bereich, bei dem wir von einer „Akzentuierung“ sprechen, wobei das Verhalten der betreffenden Person schon ein wenig auffällig ist, und als dritten Bereich gibt es eine handfeste Persönlichkeitsstörung. Letztere heißt so, weil sie das gesamte Erleben und Verhalten einer Person betrifft. Es sind tiefgreifende Muster, die überhaupt nicht an die kulturellen Normen angepasst sind, sodass daraus in der Regel gravierende Beziehungsprobleme entstehen.
Menschen mit narzisstischer Persönlichkeitsstörung wollen Anerkennung von anderen Menschen und am besten sogar Bewunderung.
Es gibt drei übergreifende Kriterien. Erstens, dass die betreffenden Personen Phasen von Großartigkeit bei sich erleben. Sie haben also ein Selbstbild, dass sie besonders großartig, irgendwie wichtiger als andere Menschen und anderen Menschen überlegen sind. Damit einher geht das zweite Kernkriterium: Menschen mit narzisstischer Persönlichkeitsstörung wollen Anerkennung von anderen Menschen und am besten sogar Bewunderung. Und das dritte, was Narzissmus im klinischen Sinne auszeichnet, ist ein Mangel an Einfühlungsvermögen, an Empathie. Diesen Menschen sind die Bedürfnisse, Wünsche und Grenzen von anderen Personen oft nicht bewusst – oder wenn sie ihnen bewusst sind, werden diese ignoriert. Es ist eine Art Vorgehen „ohne Rücksicht auf Verluste“.
Das sind die drei Kernkriterien und die müssen so ausgeprägt vorliegen, dass sie situationsunabhängig dauernd vorherrschen. Nur wenn jemand einen schlechten Tag hat und deshalb mal mangelndes Einfühlungsvermögen zeigt, sprechen wir noch lange nicht von einer Persönlichkeitsstörung. Es muss sich über einen langen Zeitraum zeigen, dass ein Muster dieser Verhaltensweisen vorliegt.
Diesen Menschen sind die Bedürfnisse, Wünsche und Grenzen von anderen Personen oft nicht bewusst – oder wenn sie ihnen bewusst sind, werden diese ignoriert.
Dafür muss man verstehen, dass dem Narzissmus im klinischen Sinne selbst eine Mangelerscheinung zugrunde liegt. Menschen werden nicht aus Spaß Narzissten oder weil sie es toll finden. Die Ursachen dafür liegen in ihrer eigenen Biografie. Dabei geht es sehr stark um emotionale Reife. Es gibt bestimmte Entwicklungsvoraussetzungen für diese emotionale Reife und dieser Prozess wurde im Leben von Narzissten irgendwann gestört – meist in der Kindheit. Dadurch sind sie über ein gewisses Niveau in der Entwicklung ihrer emotionalen Reife nicht hinausgekommen. In der Biografie von Narzisst*innen findet sich nahezu immer eine Störung in der Bindung an die Bezugspersonen der Kindheit. So konnte sich kein gesundes Selbstwertgefühl entwickeln.
Und dadurch sind sie, wenn sie irgendwann in die Elternrolle kommen, nicht in der Lage, ihrem Kind das zu geben, was ein Kind eigentlich unbedingt für eine gesunde Entwicklung, vor allem Selbstwertentwicklung, braucht: gesehen zu werden, Einfühlungsvermögen von den Eltern zu bekommen. Genau das, was narzisstische Eltern nicht geben können. Sie sind quasi selbst extrem bedürftig und erwarten die Erfüllung ihrer grenzenlosen Bedürfnisse und Ansprüche von ihrem Kind. Dieses Phänomen nennt sich in der Fachsprache „Parentifizierung“, also eine Rollenumkehr zwischen Eltern und Kind. In einer gesunden Eltern-Kind-Beziehung kümmern sich die Eltern um das Kind bzw. die Kinder. Aber wenn Menschen narzisstisch sind, sind sie selbst darauf angewiesen, dass man sich um sie kümmert.
Narzisstische Eltern sind nicht in der Lage, ihrem Kind das zu geben, was es unbedingt für eine gesunde Selbstwertentwicklung, braucht: gesehen zu werden, Einfühlungsvermögen von den Eltern zu bekommen.
Foto: Sonia Kaftan ist Diplom-Psychologin und arbeitet als Psychotherapeutin in der Praxis am Markgrafenkarrée in Berlin
Wenn ein*e Narzisst*in auftritt, dann denken alle: „Wow, was für ein selbstbewusster Mensch!“, sie werden als sehr stark wahrgenommen. In Wirklichkeit ist aber das Selbstwertgefühl dieser Menschen extrem brüchig und fragil. Es braucht meist nur eine kleine Kritik, eine nichterfolgte Anerkennung oder ein Lob, das gewünscht war, aber nicht kommt, um eine*n Narzisst*in in eine Krise zu bringen. Hinter der starken Fassade steckt letztlich ganz viel Verletzlichkeit. Und das bezieht sich natürlich auch auf die Beziehung zu Kindern.
Das kann zum Beispiel die Form annehmen, dass narzisstische Eltern ihre Kinder als Erweiterung ihres Selbst verstehen. Das wäre umgangssprachlich die „Eislaufmutter“, die von ihrer Tochter verlangt, unfassbar erfolgreich zu werden und in vollem Glanze zu erstrahlen, und die versucht, stellvertretend selbst auch mit in diesem Scheinwerferlicht zu stehen und die Anerkennung und Bewunderung selbst einzustreichen. Und die andere Form ist das Gegenteil: Dass narzisstische Eltern versuchen, ihre Kinder systematisch kleinzuhalten, abzuwerten und entsprechend zu manipulieren. Nach dem Motto: „Mein Kind darf mich nicht überstrahlen oder überholen.“
Man kann gar nicht sagen, welche Version schlimmer ist, weil beide mit sich bringen, dass das Kind sich nicht entsprechend der eigenen Persönlichkeit, Talente und Fähigkeiten entwickeln und entfalten darf. Es muss immer einen Zweck für seine Eltern erfüllen. Das ist der Kern. Das Kind soll für seine Eltern da sein anstatt umgekehrt, was der gesunde und natürliche Fall wäre. Und mit dieser Aufgabe ist ein Kind naturgemäß völlig überfordert – es kann sie gar nicht erfüllen, selbst wenn es sich noch so anstrengt.
In einer gesunden Eltern-Kind-Beziehung kümmern sich die Eltern um das Kind bzw. die Kinder. Aber wenn Menschen narzisstisch sind, sind sie selbst darauf angewiesen, dass man sich um sie kümmert.
Es gibt tatsächlich einen gesunden kindlichen Narzissmus. Menschen kommen quasi als „Frühgeburten“ auf die Welt, die ohne Hilfe nicht überlebensfähig und komplett abhängig von anderen sind. Deshalb gibt es das unsichtbare Band namens Bindung zwischen kleinen Kindern und Eltern. Wenn es gut läuft, dann fühlen sich die Eltern für das Kind in ihrer Fürsorgepflicht verantwortlich. Ein kleines Kind sieht sich deshalb auch als Zentrum der Welt und als die wichtigste Person.
Heute weiß man, auch wissenschaftlich abgesichert, dass es essentiell ist für die gesunde Selbstwertentwicklung eines Kindes, dass Eltern seinen Bedürfnissen nachkommen. Mit „Bedürfnis“ ist hier nicht jeder Wunsch nach einem Eis gemeint, sondern eher psychologische Grundbedürfnisse. Nach Grawe gibt es vier davon: Bindung, Kontrolle, Selbstwerterhöhung und Lustgewinn bzw. Unlustvermeidung. Man züchtet sich dadurch keine erwachsenen Narzissten heran, wenn man die Bedürfnisse von Kindern in den Vordergrund stellt. Sondern es ist umgekehrt: Wenn die genannten psychologischen Grundbedürfnisse im Großen und Ganzen gut erfüllt sind, dann können Kinder dem kindlichen Narzissmus irgendwann entwachsen und sie brauchen ihn nicht mehr. In diesem Sinne ist pathologisch bzw. krankhaft ausgeprägter Narzissmus im Erwachsenenalter also häufig eine Folge davon, dass der kindliche Narzissmus nicht ausreichend erfüllt worden ist.
Man züchtet sich keine erwachsenen Narzissten heran, wenn man die Bedürfnisse von Kindern in den Vordergrund stellt. Sondern es ist umgekehrt: Wenn das passiert, dann können Kinder dem kindlichen Narzissmus irgendwann entwachsen und sie brauchen ihn nicht mehr.
Natürlich gibt es einen „Mutter-Mythos“ und normierte Vorstellungen davon, was „eine gute Mutter“ ist. Und da gehört Narzissmus definitiv nicht dazu. Zudem wird Narzissmus bei Frauen* viel negativer bewertet als bei Männern*.
Hinzu können außerdem frauen*feindliche Mechanismen kommen, indem Mütter allzu schnell als „Narzisstinnen“ pathologisiert werden, wenn sie sich auf eine Art und Weise verhalten, die von diesem überzogenen „Mutter-Ideal“ abweicht, aber eigentlich nur ganz normale menschliche Bedürfnisse widerspiegelt. Beispielsweise wenn eine Mutter den Wunsch äußert, einfach mal drei Tage ohne das Kind oder die Kinder zu sein.
Nein, natürlich nicht! Siehe Anfang unseres Gesprächs.
Grundsätzlich gilt auch hier, dass eine narzisstische Beziehung unterschiedliche Gesichter haben kann. Entweder die symbiotische Verschmelzung: dass ich versuche, über das Kind etwas auszuleben und Anerkennung zu erhalten. Oder das Kleinhalten und Abwerten des Kindes, um mich selbst zu erhöhen. Das kann grundsätzlich auf beide Geschlechter zutreffen, auf Söhne wie auf Töchter.
In meiner praktischen Arbeit in der psychotherapeutischen Praxis zeigen sich aber schon unterschiedliche Muster: Bei Söhnen ist es häufig so, dass narzisstische Mütter ihre Söhne früh schon zu einem Partnerersatz erklären – und im schlimmsten Fall sogar grenzwertig erotisch besetzen, indem sie beispielsweise keine Freundin an der Seite ihres Sohnes dulden, da diese als Bedrohung wahrgenommen wird. Nach dem Motto: „Es darf nur eine Frau in deinem Leben geben und das bin ich“. Hier zeigt sich das fragile Selbstwertgefühl von Narzisst*innen besonders deutlich. Bei Töchtern liegt es für narzisstische Mütter näher, in Konkurrenz zu gehen und die Töchter systematisch abzuwerten.
Das ist natürlich nicht immer so. Es ist ein Muster, das sich im klinischen Alltag erkennen lässt, aber es lassen sich nicht alle Eltern-Kind-Konstellationen über einen Kamm scheren.
Bei Söhnen ist es häufig so, dass narzisstische Mütter ihre Söhne früh schon zu einem Partnerersatz erklären. Bei Töchtern liegt es für narzisstische Mütter näher, in Konkurrenz zu gehen.
Auch dort lassen sich Muster erkennen. Das Perfide ist: Wenn wir zur Welt kommen, dann ist das, was wir in den ersten Monaten und Jahren über die Welt erfahren – wie sich Beziehungen anfühlen, wie es sich anfühlt, von einer Person geliebt zu werden, wie ein zwischenmenschlicher Austausch stattfindet – unser Bild der Realität. Diese Erlebnisse formen, was wir für „normal“ halten und was wir im späteren Leben von der Welt erwarten. Es finden Prägungen statt, die auch psychologische Spuren hinterlassen.
Das bedeutet, ein kleines Kind mit narzisstischen Eltern oder einem narzisstischen Elternteil denkt erstmal nicht: „Mama hat ein Problem.“ oder „Mama hat eine Störung und behandelt mich deshalb so.“ Es denkt, das Verhalten des narzisstischen Elternteils sei normal. Und weil Kinder so extrem auf ihre Eltern angewiesen sind, haben sie die Neigung, Mama und/oder Papa glücklich zu machen. Sie wollen sicherstellen, dass ihre Eltern zufrieden sind, denn nur so sichern sie wiederum ihre eigene Existenz. Das ist so in unserer Psyche angelegt.
Und wenn ich in den ersten Lebensjahren ein narzisstisches Elternteil erlebe, dann ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass ich ein Leben lang meine eigenen Grenzen und Bedürfnisse nicht wahrnehmen kann und Aufopferungstendenzen haben werde. Daraus entstehen im Erwachsenenalter haufenweise Probleme, was Beziehungsführung auf Augenhöhe betrifft. Wenn die eigenen Wünsche und Bedürfnisse früher nie gezählt haben, woher soll ich sie dann auf einmal wahrnehmen können?
Wenn ich in den ersten Lebensjahren ein narzisstisches Elternteil erlebe, dann ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass ich ein Leben lang meine eigenen Grenzen und Bedürfnisse nicht wahrnehmen kann und Aufopferungstendenzen haben werde.
Das ist im besten Fall etwas, das Erwachsene in eine Therapie treibt. Man muss ja überhaupt erstmal die Muster erkennen: „Ich kann ja gar nicht Nein sagen.“ Oder: „Ich kann mich ja gar nicht wehren, wenn jemand meine Grenzen überschreitet und mich ausnutzt oder manipuliert. Denn das habe ich ja immer für normal gehalten. Mit mir kann man es ja machen. Ich bin ja sowieso nicht gut genug und nicht liebenswert. Mit mir ist ja etwas grundsätzlich falsch. Also dürfen andere Menschen so mit mir umgehen.“ Sich davon zu distanzieren, ist sehr kleinschrittige, mühsame Arbeit.
Der schmerzhafteste Prozess ist – in der Regel – erst einmal anzuerkennen, was passiert ist, dass man Opfer war. Nicht mehr die Augen davor zu verschließen und zu rechtfertigen. Vielen Betroffenen fällt es sehr schwer, ihre Eltern zu kritisieren.
Der logische Folgeschritt ist, wenn die Eltern am Leben teilnehmen, eine innere und/oder äußere Distanz – zumindest phasenweise – aufzubauen. Es muss ein verspäteter Abnabelungsprozess stattfinden. Ob das bedeutet, dass man nicht mehr so viel in Kontakt mit dem betreffenden Elternteil ist, oder ob es „nur“ eine innere Distanzierung bedeutet, sei mal dahingestellt. Aber in der Regel geht es ohne Distanzierung nicht.
Dann werden mühsam die ersten Schritt in Richtung eigene Bedürfnisse gemacht. Zum Teil lernen die Menschen erst tief im Erwachsenenealter, sich selbst überhaupt wahrzunehmen. „Was will ich? Wie fühle ich mich? Was denke ich dazu?“ Und dann, im nächsten Schritt, das auch auszuprobieren.
In der Regel finden es die narzisstischen Eltern nicht gut, wenn sich das Kind emanzipiert, eigene Wege geht und sich der Funktion entzieht, die ihm zugeschrieben wurde. Meistens geht es nicht ohne Konflikt.
Es kann aber auch passieren, dass ein gemeinsamer Selbstreflektionsprozess mit der*dem Narzisst*in möglich ist und dass sie selbst verstehen, wie sie sich verhalten haben.
4 Kommentare
Hallo, vielen Dank für den wertvollen Artikel!
wow, ich finde sehr sehr viele Sätze die ich für einen meiner Eltern komplett unterstreichen kann!
ABER dabei geht es um meinen Vater. schade, dass ihr nur auf die narzisstische Mutter eingeht. Leide empfinde ich das nicht nur als Mangel, weil ich jetzt gerne auch zu meiner Situation ein Beispiel gelesen hätte – also narzisstischer Vater -, sondern auch weil ich es echt schade finde, dass es sich dadurch liest als hätte nur eine narzisstische Mutter negativen Einfluss auf die Kinder. Wahrscheinlich weil ja ganz klischeehaft nur die Mütter die Kinder erziehen.
Vielleicht gibt’s ja irgendwann auch einen Artikel über narzisstische Väter. Mich würde es sehr freuen.
Ich werde euch auf jeden Fall fleißig weiterlesen und freue mich immer über eure tollen Beiträge.
Schönes Wochenende wünsche ich!
Vielen Dank für Deinen Kommentar. Die Aussagen, die sich grundsätzlich auf narzisstische Menschen bzw. Eltern beziehen, sind – in der Regel – auch auf Väter anwendbar.
Hallo, da ist gut geschrieben. Danke
Ich war leider Coabhängig. Jetzt muss ich wieder kämpfen, es ist einfach schrecklich. Mein narzisstischer Ex [Kanutrainer unserer Kanukinder] projiziert seine „verfehlte Kindeswohl-Polemik auf mich“ und verdirbt mir meinen Urlaub….Meine einzigen 3 Wochen im Urlaub.
Blödsinnige Aussage dass Männlicher Narzissmus größere Akzeptanz findet. in den 70ern nicht mal. Ich musste sehr viele Umwege gehen um den(sub) „Typ“ meiner Mutter zu verstehen durch diese Trennung der Geschlechter und das Narzissmus etwas weichgespült wird. Ist auch Verständlich nicht jeder Narzisst nutzt physische Gewalt.