Silent Treatment: Wenn Stille verletzend wird

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11. September 2024

Worte können wehtun, aber auch Stille kann verletzen. Wenn aus einer Meinungsverschiedenheit eine Diskussion wird, die schließlich in einem Streit endet und dann plötzlich eine Person gar nichts mehr sagt, ist das irritierend, frustrierend und auch schmerzhaft. Die Person, die ohne Ankündigung und Erklärung nicht mehr mit der anderen Person kommuniziert, bricht so quasi den Kontakt ab und lässt die andere Person auf sich gestellt.

Doch was steckt psychologisch dahinter, wie kann ich selbst aus so einem Verhaltensmuster ausbrechen und wie kann ich damit umgehen, wenn mein*e Partner*in mir gegenüber Silent Treatment zeigt? Darüber haben wir mit Anouk Algermissen gesprochen. Sie ist Paartherapeutin und hilft Paaren in ihrer Praxis, wieder in Verbindung zu kommen, ihre Streitkultur zu verbessern und gelassener zu kommunizieren. Auch sie trifft in ihren Sitzungen immer mal wieder auf Paare, bei denen es im Streit zu Silent Treatment kommt.

Silent Treatment ist wie Liebesentzug. Eine Person bricht den Kontakt ab, indem sie nichts mehr sagt.

femtastics: Was wäre aus psychologischer Sicht die Definition für Silent Treatment?

Anouk Algermissen: Auf Deutsch wäre Silent Treatment so etwas wie Liebesentzug. Eine Person bricht den Kontakt ab, indem sie nichts mehr sagt. In der Regel passiert das in Streitsituationen und in Folge einer Verletzung. Die Person zieht sich in sich selbst zurück, lässt nichts mehr an sich heran und fährt so eine Art Mauer hoch. Für das Gegenüber ist das frustrierend und führt dazu, dass die Person sich vor den Kopf gestoßen fühlt. Das Problem kann so nicht mehr gelöst werden, man redet gegen eine Wand. Dadurch können Verlustängste und Wut getriggert werden, was wiederum dazu führen kann, dass der Streit weiter eskaliert. 

Es ist eine Selbstschutzstrategie, die aber nicht reflektiert wird und deshalb enorme Schaden auslöst.

Ist Silent Treatment somit eher ein Selbstschutz statt einer Taktik, die andere Person zu verletzen? Passiert es bewusst oder unbewusst?

In den allermeisten Fällen ist es eine Selbstschutzstrategie, die aber nicht reflektiert wird und deshalb enorme Schaden auslöst, in beide Richtungen. Die Person, die das für sich macht, sitzt da mit ihrem Frust und ihrer inneren Wut, die sie nicht kommuniziert, wodurch sich nichts verändern kann. Die Person, die Silent Treatment macht, ist sich dessen häufig auch gar nicht bewusst. 

Die meisten Menschen nutzen es nicht als aktive Strategie, um Menschen wehzutun, sondern als Bewältigungsstrategie. Bewältigungsstrategien haben eben den Punkt, dass sie automatisch ablaufen und nicht reflektiert werden.

Und wie geht es der anderen Person?

Die andere Person hingegen ist damit konfrontiert, dass sie sich überhaupt nicht gehört fühlt. Es entsteht das Gefühl, mit dem Problem allein zu sein, diese nicht mehr gemeinsam lösen zu können, woraus Traurigkeit und Frustration resultieren.

Viele Menschen, die ein Silent-Treatment machen, ist aber gar nicht bewusst, wie eskalierend dieses Verhalten und wie schmerzhaft Schweigen sein kann. Das ist ein großes Problem. Menschen die laut werden, wissen häufig, dass ihr Verhalten nicht okay ist. Menschen, die schweigen, denken häufig, dass sie ja niemanden angreifen. Hier fehlt häufig die Selbstreflektion, was sie damit in der anderen Person auslösen können.

Menschen, die schweigen, denken häufig, dass sie ja niemanden angreifen.

Was sind die kurzfristigen Konsequenzen von Silent Treatment in einer Beziehung?

Die kurzfristige Problematik ist, dass Probleme nie gelöst werden. Es gibt im Streit immer einen Punkt, wo das Gespräch vorbei ist und das Paar kommt nie zu einer Lösung. Das heißt, die einzige Option ist, es zu akzeptieren oder zu vermeiden. So kommt ein Thema aber nie zum Ende.

Wer schweigt, schickt ein Signal. Hier ist das, was man sendet und das, was ankommt meistens sehr unterschiedlich. Man will vielleicht senden: Hey, mir ist das ja alles zu viel. Ich brauche Zeit für mich. Ich brauche Ruhe. Häufig kommt aber an: Dir ist komplett egal, was ich sage. Du interessierst dich nicht für mich und du willst mir jetzt wehtun, indem du mir zeigst, wie egal ich dir bin. 

Und welche langfristigen Konsequenzen hat Silent Treatment in einer Beziehung?

Dadurch, dass vorher keine Klarheit zwischen dem Paar besteht, warum jemand anfängt zu schweigen, kommt es häufig zu einer höheren Eskalation, was den Streit immer wieder größer macht. Für die Person, die schweigt, kann das paradoxerweise auslösen: Ich muss noch früher anfangen zu schweigen, damit ich gar nicht in diese emotionale Situation reinkomme. Das heißt, dass der Zeitpunkt des Streites immer weiter nach vorne gesetzt wird.

Langfristig werden die Probleme immer größer, weil sie nicht geklärt werden. Das Paar streitet immer häufiger und befeuert sich immer mehr. Es bauen sich bestimmte Glaubenssätze auf wie „Alles was ich sage, wird gegen mich verwandt“ oder „Ich kann es eh nur falsch machen“. Diese beeinflussen, wie offen, ehrlich und authentisch die allgemeine Kommunikation ist.

Es kann ein Ausdruck von Trotz sein, der Person nichts mehr geben zu wollen, da man sich vorher nicht gehört gefühlt hat.

Weiß man aus psychologischer Sicht, was hinter Silent Treatment steckt und wo die Ursprünge sind?

Die Ursprünge können unterschiedlich sein. Zum einen kann da Modelllernen reinspielen: Man hat in der Familie gelernt, dass es irgendwann einen Punkt gibt, wo nicht weitergeredet wird. Die Familie sitzt am Esstisch, es kommt ein unangenehmes Thema auf und die Eltern sagen so etwas wie „Jetzt reicht es, darüber reden wir nicht weiter“. Hier lernt das Kind: Wenn es zu einem unangenehmen Punkt kommt, wird geschwiegen, um es zu stoppen.

Natürlich spielt auch der Persönlichkeitsstil eine Rolle: Wenn man ein eher vermeidender Bindungstyp ist, also man prinzipiell Emotionsäußerungen und Streit sehr schlecht aushalten kann, kann es Silent Treatment begünstigen. Die Person ist vielleicht eher konfliktscheu und harmoniebedürftig. Ihr Schweigen ist dann der Versuch, zu deeskalieren – nach dem Motto „Wenn ich gar keine Angriffsfläche mehr biete, dann hört es auf“. 

Es kann aber auch ein Ausdruck von Trotz sein, der Person nichts mehr geben zu wollen, da man sich vorher nicht gehört oder gar gegen die Wand geredet gefühlt hat. Diese drei Aspekte können auch alle zusammenkommen und Silent Treatment auf der Verhaltensebene als Konsequenz haben.

Was kann ich selbst tun, um aus diesem Verhaltensmuster rauszukommen oder andere Strategien zu entwickeln, wenn ich zu Silent Treatment neige?

Zunächst einmal: die Perspektive wechseln und sich in das Gegenüber hineinversetzen. Ich muss verstehen, wie verletzend diese Verhaltensweise sein kann und dass sie auch eskalierend wirkt. Der nächste wichtige Punkt ist: die eigene Anspannung verstehen. Da ist eine hohe Anspannung, die so groß wird, bis ich nichts mehr sagen kann. Ich kann lernen, diese früher zu regulieren und offener mit dem umzugehen, was die Anspannung auslöst. Hilfreich kann es zum Beispiel sein, im Streit eine kurze Pause zu machen.

Ich kenne aus der Praxis Paare, bei denen der Part, der schweigt, die Annahme hat, dass eine Pause nichts bringt. In der Realität haben sie den Streit aber einfach abgebrochen, sind aus dem Raum und haben nicht mehr darüber gesprochen. Eine wirkliche Pause, in der man im Anschluss wieder aufeinander zukommt, kann hingegen helfen, festgefahrene Dynamiken aufzulösen und nicht das Gefühl zu haben, mit dem Rücken zur Wand zu stehen. 

Wie lässt sich das umsetzen?

Hier ist es wichtig, dass beide Parteien es absprechen. Wenn ich merke, dass meine Anspannung steigt, kann ich kommunizieren „Hey Schatz, ich brauche gerade eine Pause, gehe kurz um den Block und bin dann wieder da“ oder „Ich merke, dass ich das erstmal für mich in Ruhe sortieren muss. Ich kann gerade nicht mehr. Wir treffen uns morgen nach der Arbeit zum Essen und sprechen dann weiter, okay?“ – das schafft eine Begrenzung der Pause, die klar macht, dass man nicht einfach aus dem Gespräch flieht.

Ich muss einen Umgang damit finden, der es mir erleichtert, nicht selbst durch das Schweigen getriggert zu werden. 

Wenn ich die Person bin, die angeschwiegen wird – was kann ich tun? Sollte ich die Person in Ruhe lassen oder versuchen, in die Kommunikation zu kommen?

Zunächst einmal erfordert es eine Menge Verständnis und das Bewusstsein darüber, dass die Person mich nicht anschweigt, um mich zu bestrafen, sondern weil es ihr zu viel ist. Dadurch verhindere ich, dass es in mir selbst neue Glaubenssätze und Verletzungen auslöst. Durch dieses Bewusstsein kann ich mich davon distanzieren und lernen, das Verhalten nicht persönlich zu nehmen. Zusätzlich muss ich einen Umgang damit finden, der es mir erleichtert, nicht selbst durch das Schweigen getriggert zu werden. 

Wenn die Person selbst ihr Verhalten nicht reflektiert, dann kann ich es vorsichtig ansprechen und zum Beispiel sagen: „Ich sehe, dass du gerade mauerst und blockierst. Ich weiß, dass es häufig aus einer Überforderung entsteht. Ich habe dir aber noch etwas Wichtiges zu sagen und für mich ist das Gespräch noch nicht beendet. Wir können aber eine Pause machen, wenn dir das helfen würde?“.

Es kann sinnvoll sein, als Paar gemeinsam ein ruhiges Gespräch zu führen, in dem zusammen überlegt wird, wie in Zukunft mit solchen Situationen umgegangen wird, Regeln aufzustellen und auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen. In einer Akutsituation ist es schwer, richtig damit umzugehen.

Was kann ich tun, wenn von der Person, die schweigt, wenig Einsicht kommt?

Es ist generell ein großes Problem für eine gesunde, funktionierende Beziehung, wenn jemand sein eigenes Verhalten nicht reflektiert. Dabei gibt es aber Unterschiede: Eine Person, die generell nicht bei sich selbst hinschauen möchte und eine Person, die in Akutsituationen nichts mehr an sich ranlassen kann, aber danach durchaus in der Lage ist, sich zu reflektieren.

Wenn da jemand ist, der auch im ruhigen Zustand keine Einsicht zeigt und generell keine Lust hat, sich damit auseinanderzusetzen, dann habe ich nur zwei Optionen: akzeptieren oder trennen. Ganz hart gesagt: Eine Entwicklung geht in so einer Beziehung ab einem bestimmten Punkt einfach nicht weiter, da es beide Menschen braucht, um eine Beziehung zum Funktionieren zu bringen.

Und wenn der- oder diejenige generell offen ist für ein Gespräch?

Wenn jemand prinzipiell offen für ein klärendes, selbstreflektierendes Gespräch ist, dann habe ich zwei Optionen. Zum einen kann ich mein eigenes Erleben schildern und über meine Gefühle dazu sprechen, mich öffnen und verletzlich zeigen. Zum anderen kann ich der Person einen kleinen Schubs in die richtige Richtung geben. 

Es ist ein bisschen tricky, denn viele Menschen wollen keine Tipps von ihre*r Partner*in annehmen und es ist wichtig, dabei nicht von oben herab zu kommunizieren, nicht anklagend, sondern sachlich zu bleiben. Ich kann der Person aber zum Beispiel eine Podcast Folge oder ein Interview wie dieses hier empfehlen, wodurch sie sich dem Thema von außen annähern kann. Das kann dabei helfen, zu verstehen: Das ist nicht nur die Perspektive und persönliche Meinung meines Partners oder meiner Partnerin, sondern es ist ein Thema, über das gesprochen wird, das viele Menschen erleben.

Je lauter die eine Person wird, desto zurückgezogener wird die andere.

Gibt es Beziehungsmuster, die typisch sind – trifft zum Beispiel eine Person, die schweigt, eher auf eine Person, die lauter oder wütend wird?

Es gibt schon häufig die Kombination aus einem Menschen, der immer lauter wird, und einem, der immer leiser wird. Sie steigern sich jeweils in die entgegengesetzte Richtung. Je lauter die eine Person wird, desto zurückgezogener wird die andere. Es gibt aber auch die Kombination aus zwei Menschen, die schweigen. Das kann dazu führen, dass über Tage und im schlimmsten Fall sogar Wochen geschwiegen wird.

Was wäre dein abschließender Rat zum Thema Silent Treatment?

Als Person, die Silent Treatment macht, muss ich erstmal lernen, mich selbst dabei zu erwischen. Ich kann mir dann selbst die Frage stellen: Was hat mich gerade so verletzt, dass ich schweigen möchte? Es hilft, neugierig und offen im Umgang mit mir selbst zu bleiben, statt sich abzuwerten. Hier hilft ein gewisses Selbstmitgefühl: Irgendwas hat mich gerade so überfordert, traurig oder wütend gemacht, dass ich zu diesem Muster gegriffen habe. Woher kommt das Gefühl dahinter? Dort liegt etwas ganz Wichtiges, das ich bisher noch nicht kommuniziert habe – eine Grenze, ein Bedürfnis, eine Emotion, von der die andere Person wohlmöglich keine Ahnung hat. Indem ich mich selbst besser verstehe, gebe ich auch der anderen Person die Chance, etwas zu verändern, um Verletzungen in Zukunft eher vermeiden zu können.

Hier findet ihr Anouk Algermissen:

Collage: „Canva“

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