Die Gründerinnen von „Shitshow“ entstigmatisieren das Thema „mentale Erkrankungen“ in der Arbeitswelt

Das Leben ist ein Drahtseilakt. Manchmal stehen wir oben auf, fühlen uns gut. Manchmal verlieren wir die Balance, wir taumeln und können uns nur mit viel Kraft oben halten. Doch was passiert, wenn wir fallen? Die Weltgesundheitsorganisation schätzt, dass jede*r vierte Erwachsene mindestens einmal in seinem Leben an einer psychischen Störung erkrankt. Depressionen, Magersucht, Angststörungen, Burnout sind keine Seltenheit. Die Betroffenen sind Freund*innen, Verwandte oder wir selbst. Wieso sprechen wir trotzdem so wenig darüber? Und wie kommuniziert man psychische Erkrankungen an Orten, an denen sie noch immer als Tabu gelten? Zum Beispiel auf der Arbeit? Diese Frage treibt Nele Groeger (33), Johanna Dreyer (32) und Luisa Weyrich (31) an. Ihre Suche nach Antworten mündet in der Gründung von „Shitshow“ – eine Agentur für psychische Gesundheit in Berlin. Gemeinsam mit ihrem Netzwerk aus Psycholog*innen und BGM- und HRExpert* innen unterstützen sie Unternehmen und Organisationen, um mentale Erkrankungen auf der Arbeit zu entstigmatisieren. Uns hat Nele erklärt, was man tun kann, um sich selbst und anderen zu helfen und wie man mit psychischen Erkrankungen in einem Unternehmen umgehen kann.

Unsere mentale Gesundheit ist die Basis dafür, dass wir funktionierende Beziehungen eingehen und schöne Erfahrung in unserem Leben sammeln können.

femtastics: Wieso sollten wir alle unbedingt mehr über mentale Gesundheit sprechen?

Nele Groeger: Unsere mentale Gesundheit ist die Voraussetzung für ganz viele Sachen. Durch sie können wir gut und gesund zusammenarbeiten, uns in unserem Leben verwirklichen. Sie ist die Basis dafür, dass wir funktionierende Beziehungen eingehen und schöne Erfahrung in unserem Leben sammeln können. There is no health without mental health. And without health everything is nothing.

Wieso habt ihr euch entschlossen, mit „Shitshow“ die Arbeitswelt in den Fokus zu rücken?

Uns ist aufgefallen, dass das Thema Psychische Gesundheit gerade im Arbeits- und Unternehmenskontext noch immer stark stigmatisiert ist und nur wenig darüber gesprochen wird. Gleichzeitig hatten wir den Eindruck, dass viele Organisationen und Unternehmen Schwierigkeiten damit haben, Menschen, die akut mental belastet oder gestresst sind, gut und adäquat zu unterstützen. Deshalb ist „Shitshow“ eine Beratungsagentur, die Unternehmen dabei hilft, gesunde Arbeitsweisen zu entwickeln, neue kommunikative Zugänge zu finden und das Thema für alle Beteiligten interessant und begreifbar zu machen.

Und wie können wir uns eure Arbeit konkret vorstellen?

Unser Ansatz ist zweigeteilt. Zum einen arbeiten wir daran, psychische Erkrankungen zu entstigmatisieren. Viele Beratungsfirmen stützen sich auf das Thema Prävention und helfen Mitarbeiter*innen, besser mit Stress umzugehen. Das ist alles super. Aber wir vergessen häufig, dass Stigmatisierung einen großen Anteil daran hat, wie gut Hilfsangebote im Unternehmen überhaupt wahrgenommen werden. Die Leute trauen sich häufig gar nicht durch die Tür der/des Betriebspsycholog*in zu gehen, aus Angst, danach abgestempelt zu werden. Auf der anderen Seite befähigen wir Unternehmen. Ganz konkret machen wir zum Beispiel Sensibilisierungstrainings mit Führungskräften, um ihnen verständlich zu machen, was eine psychische Erkrankung überhaupt ist, welche Einschränkungen sich daraus ergeben und wie man am besten damit umgeht, wenn ein*e Mitarbeiter*in akut mental belastet ist. Außerdem setzen wir das Thema für Gesundheitstage um, halten Vorträge und machen eine Ausstellung.

Fempower: Nele Groeger (li.), Johanna Dreyer (Mitte) und Luisa Weyrich (re.) sind die drei Gründerinnen von „Shitshow“. Unsere Autorin Antonia Faltermaier hat Nele für femtastics interviewt.

Die Corona-Pandemie wirkt aktuell wie ein Katalysator. In den letzten Monaten wurde offener darüber gesprochen, dass gewisse Dinge auf die Psyche schlagen.

Für eure Ausstellung „Shitshow — a show about shitty feelings“ habt ihr die Moodsuits entwickelt. Was hat es damit auf sich?

Viele psychisch erkrankte Menschen leiden auch unter körperlichen Symptomen. Depressionen korrelieren etwa stark mit Rückenschmerzen, Konzentrationsproblemen und Gedächtnisstörungen. Häufig wird den Betroffenen aber nicht geglaubt, weil die Symptome eben unsichtbar sind. Um die körperlichen Symptome von psychischen Erkrankungen nachzustellen, haben wir die Moodsuits entwickelt. Das sind Designobjekte zum Anziehen oder Aufsetzen. Wir haben Betroffene von Depressionen und Angsterkrankungen gefragt: Wie fühlt es sich körperlich an, wenn es dir psychisch nicht gut geht? Viele, die schon mal eine depressive Phase hatten oder unter Depressionen leiden, haben uns ein Gefühl der Abgeschiedenheit beschrieben. Es kommt ihnen vor, als würden sie hinter einer Nebelwand verschwinden, man hat Schwierigkeiten, mit anderen in Kontakt zu treten. Dieses Gefühl kann man in einer sehr vereinfachten Form nachempfinden, wenn man einen unserer Moodsuits, die Glocke, trägt.

Obwohl so viele Menschen von psychischen Erkrankungen betroffen sind, sagt ihr in eurem Ted Talk, dass Burnout, Depressionen oder Angststörungen oft als Geschichte einer einzelnen Person gesehen werden. Es gibt also eine*n Betroffene*n, die/der alleine damit klar kommen muss. Ändert sich dieses Bild aktuell?

Ich glaube, die Corona-Pandemie wirkt aktuell wie ein Katalysator. In den letzten Monaten wurde offener darüber gesprochen, dass gewisse Dinge auf die Psyche schlagen. Vielleicht denkt man auch häufiger drüber nach, ob das, was man gerade empfindet, noch im Bereich des Gesunden liegt oder schon etwas „Gravierenderes“ ist? Trotzdem neigen wir dazu, psychische Erkrankungen wegzuschieben. Wir können uns alle vorstellen, morgen zu stolpern und uns den Knöchel zu brechen. Aber dass wir morgen oder in einem Monat auch psychisch erkranken können, weil die Belastung im Job zu groß wird oder irgendwas in unserem Leben passiert, schieben wir von uns weg. Besonders im Arbeitskontext werden psychische Erkrankungen gerne ausgeklammert, weil sie stark mit mangelnder Leistungsfähigkeit, Faulheit, Unzurechnungsfähigkeit verbunden werden.

Es muss okay sein, an einem Tag mal weniger zu leisten, weil wir dann auftanken können und im Anschluss wieder genug Energie haben, um uns den Aufgaben zu stellen.

Die negativen Auswirkungen für ein Unternehmen stehen also oft an erster Stelle, vor dem Menschen.

Absolut. Unternehmen haben natürlich ein wirtschaftliches Interesse. Was wir dabei häufig übersehen, ist, dass wir alle jeden Tag auf dem Spektrum psychischer Gesundheit balancieren. An einem Tag sind wir total leistungsfähig, am nächsten Tag brauchen wir mehr Pausen. Deshalb ist es auch entscheidend, wie menschlich wir unsere Arbeit gestalten. Es muss okay sein, an einem Tag mal weniger zu leisten, weil wir dann auftanken können und im Anschluss wieder genug Energie haben, um uns den Aufgaben zu stellen. Darum geht es uns und darauf legen wir den Finger.

In eurem Ted Talk zitiert ihr einen Tweet der Amerikanerin Madalyn Parker. Sie kündigte ihrem Chef via Mail an, die nächsten zwei Tage bei der Arbeit zu fehlen, um sich um ihre mentale Gesundheit zu kümmern. Ihr Chef hat sich bei ihr bedankt und nennt sie ein Vorbild. Sind wir in Deutschland schon an dem Punkt auch auf der Arbeit offen über mentale Gesundheit zu sprechen?

Diese Frage wird uns relativ oft gestellt. Soll ich meine psychische Erkrankung offen kommunizieren? Aber wenn wir jedem pauschal raten, sich auf jeden Fall zu öffnen, werden wir der Komplexität des Problems nicht gerecht. Wie gut das Thema aufgenommen wird und wie gut man aufgefangen wird, wenn man sich öffnet, hängt von ganz vielen Faktoren im Unternehmen ab. Ist die Arbeitskultur entsprechend? Gibt es schon Vorreiter*innen in dem Bereich? Wie ist man arbeitsrechtlich geschützt?

In den USA sind psychische Erkrankungen schon Teil des Diversity Diskurs. Sie gehören – genauso wie Behinderungen und spezielle Bedürfnisse – zum Spektrum des Menschseins dazu und sind deswegen auch auf der Arbeit normal.

Natürlich wäre es wünschenswert, dass jede*r, der offen über seine Situation sprechen möchte, auch die Möglichkeit dazu hat – aber hier hinkt Deutschland leider noch weit hinterher. In den USA sind psychische Erkrankungen schon Teil des Diversity Diskurs. Sie gehören – genauso wie Behinderungen und spezielle Bedürfnisse – zum Spektrum des Menschseins dazu und sind deswegen auch auf der Arbeit normal.

Wo liegen eurer Erfahrung nach noch die größten Probleme in Unternehmen?

Kommunikation ist ein wichtiges Thema. Wir wissen häufig gar nicht, wie wir über psychische Gesundheit sprechen sollen. Viele fassen das Thema nur mit Samthandschuhen an, besonders Führungskräfte sind sehr vorsichtig. Aber ich glaube, dass der Druck von unten gerade wächst. Die Menschen wollen über mentale Gesundheit sprechen und Lösungen entwickeln.

Kann ich als Teammitglied aktiv etwas dazu beitragen, dass sich die Situation ändert?

Auf jeden Fall. Man selbst kann das Gespräch über psychische Gesundheit mitgestalten und vorantreiben. Stigma bekämpfen. Sage ich: „Er oder sie ist magersüchtig“ oder: „Er oder sie lebt mit der Diagnose Anorexie“? Mit solchen Kleinigkeiten fängt es an. Außerdem kann man ganz bewusst auf Menschen zugehen, wenn man das Gefühl hat, dass es ihnen nicht so gut geht.

Johanna, Nele und Luisa arbeiten für „Shitshow“ mit psychologisch geschulten Trainer*innen und Coaches zusammen.

Ich sollte es also offen ansprechen, wenn ich das Gefühl habe, dass es jemanden in meinem (Arbeits-)Umfeld mental nicht gut geht?

Viele schrecken davor zurück, Mitarbeiter*innen offen auf so etwas anzusprechen, weil sie denken, damit automatisch die Verantwortung für den Mitmenschen zu übernehmen oder eine großartige Hilfestellung leisten zu müssen. Es lohnt sich immer wieder, sich bewusst zu machen, dass es bei dem Schritt nachzufragen, nicht darum geht, eine perfekte Lösung parat zu haben, sondern darum zuzuhören, ohne zu verurteilen. Offene Fragen sind da ein guter Türöffner: „Ich habe den Eindruck, dass du in letzter Zeit angespannt und gereizt bist. Stimmt mein Eindruck? Geht’s dir vielleicht gerade nicht so gut?“ Das reicht häufig schon und ist weit mehr als viele Menschen im Arbeitsumfeld machen. Alleine das Signal kann schon sehr entlastend sein, die Erkenntnis, dass jemand aufmerksam genug war, das zu bemerken. Natürlich kann es auch passieren, dass die/der Gesprächspartner*in im Moment keine Lust hat, darüber zu sprechen oder dass es ihr/ihm gut geht. Das sollte man nicht persönlich nehmen. Lieber einmal mehr nachgefragt als einmal zu wenig. Das ist schon mal der erste Schritt. Hat man das Gefühl, mit der Situation als Helfende*r überfordert zu sein, ist es absolut legitim, sich externe Hilfe zu holen.

Die Zahl der psychischen Erkrankungen ist in der Coronavirus-Krise deutlich gestiegen. Ist das auch eine Chance, weil auf einmal mehr Menschen mentale Gesundheit auf dem Schirm haben?

Ich habe die Hoffnung, dass unser Bewusstsein für unsere psychische (und körperliche) Verletzlichkeit in den letzten Monaten gestiegen ist und dass dieses neue Bewusstsein auch anhalten wird. Vielleicht nicht in demselben Maße wie aktuell. Aber ich glaube, wir haben erkannt, dass wir uns aktiv darum bemühen müssen, damit es uns mental gut geht und dass wir gut zueinander sind.

Während des ersten Lockdowns haben zum Beispiel viele Leute angefangen zu heimwerken. Wir sehnen uns nach abschließbaren Projekten, an denen wir sehen, dass wir doch etwas verändern können.

Stress, Angst, Isolation – gibt es Tipps, wie man seine mentale Gesundheit während der Pandemie schützen kann?

Corona hat deutlich gezeigt, dass unser Umfeld, in dem wir tagtäglich arbeiten und die Art, wie wir zusammenarbeiten, einen großen Einfluss darauf hat, wie es uns geht. Deshalb haben wir während des ersten Lockdowns den Online-Workshop „Humans at home“ gelauncht, bei dem es darum ging, im Home Office mental gesund zu bleiben. Dabei gibt es Dinge, die man von außen verändern kann: Gesunde Routinen, die Trennung zwischen Arbeits- und Lebenswelt, eine klare Tagesstruktur. Daneben gibt es aber tiefgreifendere Dinge, sogenannte psychologische Grundbedürfnisse, die man für sich selber überprüfen kann. Welche Grundbedürfnisse, die in der aktuellen Krise nicht erfüllt werden, habe ich? Bindung, Kontrolle, Selbstwirksamkeit, Selbstwertgewinnung und Lustgewinn sind dabei wichtige Faktoren. Habe ich mein Leben unter Kontrolle oder entgleitet mir alles? Habe ich das Gefühl anerkannt und gemocht zu werden? Dazu gibt es dann verschiedene Techniken, die man anwenden kann. Im Bezug auf Kontrolle könnte man sich anschauen, welche Bereiche man aktuell aktiv beeinflussen kann. Während des ersten Lockdowns haben zum Beispiel viele Leute angefangen zu heimwerken. Wir sehnen uns nach abschließbaren Projekten, an denen wir sehen, dass wir doch etwas verändern können. Ansonsten sind Bindungen super wichtig, also in Kontakt bleiben, Kontakte pflegen.

Es ist toll, wenn Menschen offen über mentale Gesundheit reden, ich finde aber auch, dass jetzt eine Zeit gekommen ist, um anzufangen, etwas zu machen. Also zu sagen: Cool, what’s next?

Psychische Erkrankungen finden auch verstärkt in den sozialen Medien statt. Auf Instagram gibt es immer mehr Accounts, die sich mit Mental Health befassen. Öffnen sie das Thema mehr?

Grundsätzlich ist es auf jeden Fall eine gute Entwicklung, dass mehr darüber gesprochen wird. Betroffene bringen den Mut auf, sich zu öffnen und erfahren Bestätigung, wenn sie das Thema publik machen. Ultra wichtig ist auch, dass sie das Gefühl haben, Teil einer Community zu sein, dass sie Anschluss haben – das alles leisten soziale Medien. Deswegen sind sie nicht zu unterschätzen.

Allerdings sagen wir mittlerweile schon sehr lange, dass mehr über psychische Erkrankungen gesprochen werden muss. Das stimmt auch nach wie vor. Aber daneben gibt es noch unglaublich viel zu tun. Wir müssen unsere Arbeitsbedingungen verändern, damit wir gesund miteinander arbeiten können. Wir müssen Therapieplätze für viele Menschen bereitstellen. Es gibt so viele Themen auf gesellschaftlicher, politischer oder wirtschaftlicher Ebene, die wichtig sind. Es ist toll, wenn Menschen offen über mentale Gesundheit reden, ich finde aber auch, dass jetzt eine Zeit gekommen ist, um anzufangen, etwas zu machen. Also zu sagen: Cool, what’s next?

Ihr seid angetreten, um die Geschichte von Mental Health und den Blick der Gesellschaft auf Betroffene zu ändern. In welchem Kapitel befinden wir uns gerade?

Der Vorspann ist definitiv vorbei. Meiner Meinung nach erleben wir gerade die erste Krise des Helden. Aber diese Krise markiert auch den Wendepunkt hin zu einer größeren Aufmerksamkeit und steigert die Bereitschaft, wirklich etwas zu tun.

Das heißt aber auch, dass wir noch einen weiten Weg vor uns haben. Wie sehen eure Pläne mit der Agentur für 2021 aus?

Dieses Jahr wollen wir unsere digitalen Formate wie Onlineberatungen, Online-Trainings und -Workshops weiter ausbauen. Parallel dazu wollen wir unser Netzwerk an Berater*innen und Coaches erweitern. Wir möchten tolle, schöne Beratungsprozesse in Unternehmen anstoßen, uns anschauen, wie wir Beschäftigte gut unterstützen können und welche Probleme wir gemeinsam lösen können. Ich glaube, wir sind auf einem guten Weg.

Vielen Dank für das interessante Gespräch, Nele!

Hier findet ihr „Shitshow“:

Podcast

 

Fotos: Alena Schmick

Layout: Kaja Paradiek

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