Anouk Algermissen ist Paartherapeutin und arbeitet in ihrer Praxis mit Menschen, die ihre Streitkultur verbessern und ihre Emotionen regulieren möchten. Darum geht es auch in ihrem neuen Buch „Getriggert“, das eine Art Beziehungsratgeber für mehr gegenseitiges Verständnis und gelassenere Kommunikation darstellt. Wir haben mit ihr über das Thema ungesunde Beziehungsmuster gesprochen und sie gefragt, woran man diese erkennt, wie man sie auflöst und was man tun kann, wenn die andere Seite keine Bereitschaft zeigt, an sich zu arbeiten.
Anouk Algermissen: Die Bezeichnung „toxische Beziehung“ nutzen Psychotherapeut*innen sehr ungern, da es eine starke Generalisierung ist. Besser gewählt wäre „ungesunde Beziehungsmuster“, da dies impliziert, dass man daran arbeiten kann. Der Begriff „toxische Beziehung“ hat den Beigeschmack von „Das war’s, diese Beziehung muss beendet werden“.
Das gibt es auch, aber häufiger ist es der Fall, das Menschen in den gleichen Schleifen hängen. Ungesund wird es, wenn man es nicht mehr schafft, neue Lösungen für Probleme zu finden. Man macht dann immer die gleichen Dinge, die nie zum Ziel führen. Anhand eines Beispiels konkret gesagt: In einer Streitsituation wird eine Person immer laut, die andere Person blockt ab. Wenn dieses Verhalten immer wieder auftritt, bleiben die Probleme ungelöst und zusätzlich kommt es zum Streit.
In einer Streitsituation wird eine Person immer laut, die andere Person blockt ab. Wenn dieses Verhalten immer wieder auftritt, bleiben die Probleme ungelöst und zusätzlich kommt es zum Streit.
Neben den wiederholenden Streitmustern wären auch wiederholende Verletzungen generell ein Anzeichen. Wenn starke Emotionen getriggert werden, die eigentlich auf vergangene Verletzungen aufbauen, die nicht verarbeitet wurden, wenn ich immer wieder das Gefühl habe, nicht gesehen zu werden und dass meine Bedürfnisse ignoriert werden.
Ich würde klar differenzieren zwischen Paaren, die erkennen, dass ungesunde Muster da sind, aber die Bereitschaft haben, etwas daran zu ändern und Paaren in ungesunden Beziehungsstrukturen, bei denen eine Person nicht daran arbeiten möchte. Dann bleibt eigentlich nur noch die Frage: Akzeptiere ich das oder trenne ich mich? Die Motivation, daran zu arbeiten, ist ausschlaggebend dafür, ob es ungesund bleiben oder sich wieder hin zu gesunden Mustern verändern wird.
In einer gesunden Streitkultur kann man sich am Ende des Tages wieder annähern, aufeinander zugehen und versteht sich trotz Konflikt als Team. Beide Parteien können ihre eigenen Anteile reflektieren, sich gegebenenfalls entschuldigen und mit etwas Abstand auch die Perspektive der anderen Person einnehmen. Wenn sich nach einem Streit eher eingeigelt wird, man die andere Person möglicherweise abstraft, weil man immer noch verletzt ist, dann wird es häufig mit der Zeit immer schlimmer und Streits folgen in immer höherer Frequenz.
In einer gesunden Streitkultur kann man sich am Ende des Tages wieder annähern, aufeinander zugehen und versteht sich trotz Konflikt als Team.
Eine Grenzüberschreitung identifiziere ich am besten mit meinen eigenen Bauchgefühl. Wenn ich merke, in mir kommt ein Gefühl der Abwehr hoch, ich spüre, etwas fühlt sich nicht gut an, dann ist das für mich ein Zeichen, das man ernst nehmen sollte. Ich merke dann vielleicht eine hohe innere Anspannung, mir stehen die Tränen in den Augen.
Diese Warnsignale meines Körpers muss ich gut auslesen können, mir Zeit für mich nehmen, sie decodieren und interpretieren. Ein wichtiger Punkt bei Grenzüberschreitungen ist ebenfalls: Habe ich einen Partner oder eine Partnerin, der oder die diese als solche anerkennt, Verantwortung übernimmt und weiß, dass es nicht okay war und daran arbeiten möchte, oder habe ich eine Person, die es mir zuschiebt und sagt: „Das ist dein Problem“. Da fehlt es dann an Empathie oder Willen, auf mich zuzukommen. Das wäre eine Red Flag.
Ganz einfach angefangen ist es sowas wie ins Wort fallen. Das ist nicht unbedingt eine direkte Grenzüberschreitung, aber es ist eine Überschreitung einer respektvollen Unterhaltung und kann ein Indiz sein, dass man auf einen Streit zusteuert. Ich sage Paaren oft: Wenn man am Ende eines Satzes nicht mal tief durchatmen kann, ich Zeitdruck verspüre und meine Gedanken nicht in Ruhe teilen kann, ist man auf dem Weg zu einem schlechten Gespräch.
Wenn man am Ende eines Satzes nicht mal tief durchatmen kann, ich Zeitdruck verspüre und meine Gedanken nicht in Ruhe teilen kann, ist man auf dem Weg zu einem schlechten Gespräch.
Es gibt unterschiedliche Arten von Menschen, die sich in unterschiedlichen Beziehungsdynamiken wiederfinden. Es gibt Personen, die sich eher emotional abhängig machen. Sie investieren viel, gehen möglicherweise in Richtung People Pleaser, haben häufig Schuldgefühle und ignorieren ihre eigenen Bedürfnisse. In einer ungesunden Dynamik verausgaben sich diese Menschen total.
Dann gibt es Personen, die eher vermeidend sind. Diese werden im Konflikt sehr kalt, ziehen sich zurück und machen eine Art emotionalen Shutdown, um nichts mehr an sich heranzulassen. Am Anfang einer Beziehung waren sie vielleicht noch offen, aber sobald sie sich in die Ecke gedrängt fühlen, bauen sie eine Mauer auf.
Zuletzt gibt es die Menschen, die eher in den Angriff gehen. Diese neigen eher zu Wut. Die letzten beiden Typen sind häufig in einer Beziehung, ich nenne das Feuer-Eis-Paar. Eine Person wird laut, bricht aus und die andere Person verschließt sich und zieht sich zurück. Da kann es zu starken Reibungen kommen. Die andere Kombination wäre der erste Typ, der in einer Art „Kümmermodus“ ist, mit einer Person, die wenig investiert. Das wären zwei Muster, die relativ häufig vorkommen.
Das erste Indiz ist mein eigener Stress. An meiner Körperreaktion und meinem eigenen Gefühl kann ich ausmachen, wann ich gestresst bin. Wenn ich beispielsweise etwas ansprechen oder eine Grenze setzen möchte, ich aber direkt Sorgen habe, Bauchschmerzen bekomme, dann merke ich, dass mein Körper mir hierbei Gefahr signalisiert und ich daraufhin nicht für mich einstehen würde. Das kann irgendwann zu einem emotionalen Burnout führen.
Der erste Schritt ist immer: innehalten und reflektieren. Ich rate immer, es nicht in akuten Momenten anzugehen. Wenn man ruhig und bei sich ist, kann man sich mit Stift und Papier hinsetzen und runterschreiben, in welchen Momenten man immer wieder aneinandergerät.
Mein Tipp wäre, dass das jede*r erstmal für sich macht und man sich im Anschluss zusammensetzt und es bespricht. Hier wird der Unterschied deutlich: Habe ich einen Menschen an meiner Seite, der das mit mir zusammen machen möchte oder bin ich allein mit der Beziehungsarbeit? Bleibe ich alleine damit, dann kann ich aber auch nur fünfzig Prozent der Beziehung verändern, da die anderen fünfzig Prozent nicht mitziehen.
Der erste Schritt ist immer: innehalten und reflektieren.
Wenn ich immer wieder merke, dass mir Muster und Verhaltensweisen nicht guttun und die andere Person gar nicht auf mich eingeht, dann weiß ich: Ich bleibe allein mit dieser Arbeit. Dann habe ich die Option zu entscheiden, ob ich genug Ressourcen habe und aus vielen anderen Gründen vielleicht trotzdem in der Beziehung bleiben möchte oder ob ich mir eine Beziehung wünsche, in der man gemeinsam an den Themen arbeiten kann und sich auf Augenhöhe bewegt.
Es gibt viele Gründe, eine Beziehung zu führen. Für manche Menschen ist es okay, wenn man emotional nicht auf einer Wellenlänge ist, solange man sonst einen guten Alltag teilt, man hat vielleicht gemeinsame Kinder und holt sich die anderen Bedürfnisse in Freundschaften.
Wenn ich aber für mich erkenne, dass es nicht die Beziehung ist, die ich führen möchte, dann kommt die Frage auf: Wie komme ich los? Dafür muss ich mir erstmal Kräfte und Ressourcen aufbauen, um diesen schwierigen Schritt machen zu können. Viele Menschen haben Angst vor der Trennung, Angst vor dem Alleinsein oder vor Verlusten. Diese Dinge machen es schwer, aus Beziehungen auszusteigen, selbst wenn man vom Kopf her schon weiß, dass es einem nicht mehr guttut. Bauchgefühl und Herz gehen da manchmal in unterschiedliche Richtungen.
Vielen Paaren fehlt die Vogelperspektive. Diese versuche ich ihnen zu eröffnen und ihnen ihre Muster von außen aufzuzeigen. Ich definiere dann auch die jeweiligen Anteile, Verantwortungsbereiche und damit zusammenhängende Aufgaben.
Man sieht dann Menschen, die aktiv werden und an ihren Anteilen arbeiten möchten und eben Menschen, die passiv werden oder einen Widerstand zeigen. Auch sowas spreche ich an und zeige die Kosten des Verhaltens auf: Es ist legitim, nicht an sich arbeiten zu wollen, aber das wird Konsequenzen in der Partnerschaft haben. Es wird die emotionale Nähe erodieren und zu immer schlechterer Stimmung führen. Man kann sich dann entscheiden: Möchte ich mit diesen Konsequenzen oder gegebenenfalls sogar einer Trennung leben oder war es mir vielleicht gar nicht klar und mir ist erst jetzt die Wichtigkeit bewusst geworden?
Wenn man negative Gefühle erlebt, sollte man diese ernst nehmen. Man sollte sich damit auseinandersetzen, denn nur dann kann ich identifizieren: Ist das etwas, was ich aus einer alten Beziehung mitbringe? Beispielsweise Eifersucht – ich wurde in einer vergangenen Beziehung betrogen und bringe das mit. Ich weiß dann, dass ich bei mir anfangen, mich um meine emotionale Wunde kümmern und Skills erarbeiten sollte, um mein Nervensystem zu beruhigen.
Oder merke ich: Es entsteht in dieser Beziehung. Ich versuche offen zu kommunizieren, ich nenne meine Bedürfnisse, aber die Person schmettert es ab. Dann weiß ich, dass die Problematik innerhalb der Beziehung liegt. Es ist nicht so einfach, das auseinanderzuklamüsern. Es braucht Zeit, um sich hinzusetzen und es zu verschriftlichen. Das Aufschreiben ist eine gute Methode, um nicht in Gedankenspiralen abzutauchen, sondern es aus meinem System zu bekommen. Man kann erstmal alles unsortiert und grob rausschreiben, es dann zwei Minuten liegen lassen, nochmal draufgucken und dann die relevanten Themen und Punkte identifizieren: Was möchte ich ansprechen, welche Muster erkenne ich, worauf muss ich achten?
Wenn man dafür etwas Hilfe braucht, findet man in meinem neuen Buch „Getriggert“ ganz viele Emotionsregulationsstrategien, um sich in einer Akutsituation zu beruhigen und Methoden, um Trigger zu erkennen, Muster auseinanderzunehmen und vom oberflächlichen Thema zum eigentlichen Kern zu kommen. Ein Beispiel: Wir streiten über den Geschirrspüler, aber eigentlich geht es um das große Thema fehlende Unterstützung. Hier einen roten Faden zu identifizieren, kann sehr hilfreich sein, um ungesunde Muster aufzulösen.
Foto: Adobe Stock / KI generiert