„Als mein Bruder völlig überraschend aus dem Leben gerissen wurde, hätte ich fast den Boden unter den Füßen verloren. Vorher hatte ich nicht ansatzweise eine Ahnung davon, mit welcher Wucht Trauer zuschlägt“, sagt Autorin und Coach Katharina Afflerbach. Wie es ihr gelang, nach dem Schicksalsschlag zu ihrer Lebensfreude zurückzufinden und welche entscheidende Rolle dabei Selbstwirksamkeit spielte, erzählt sie in diesem Beitrag.
Ausgebremst. Von hundert auf null. Am 5. Mai 2016. Als mich die Nachricht auf meinem Handy erreichte, passierte alles gleichzeitig. Mein Bauch krampfte zusammen, mein Rücken krümmte sich, meine Arme und Hände zitterten und konnten das Handy kaum halten, und ich schrie, schrie wie noch nie in meinem Leben, mehr wie ein Tier als wie ein Mensch. Ein 81-jähriger Mann hatte meinen kleinen Bruder überfahren. Flo war tot. Weg. Einfach weg! Für immer!
Du weißt, dass es das jetzt erst einmal gewesen ist mit der Leichtigkeit des Lebens.
Auf Sparflamme leben, jetzt weiß ich, wie das geht. Der Körper macht nur noch das, was er machen muss: einatmen, ausatmen, trinken, ausscheiden und mit ein bisschen Glück sogar schlafen. Nimm die schlimmste Grippe deines Lebens, addiere achtzig Lebensjahre, subtrahiere alle Lebensfreude und schlepp dich in eine Höhle. Und hier bleibst du. Niemand kann dir sagen, wo das Licht angeht. Oder wo der Ausgang ist. Und den willst du auch gar nicht sehen, selbst wenn du könntest. Du willst noch nicht mal wissen, wo er ist oder ob es überhaupt einen gibt. Jetzt nicht und noch lange nicht. Niemand kann dir sagen, wann dein Appetit oder dein Schlaf wiederkommen. Geschweige denn dein Lächeln. Und du weißt, dass es das jetzt erst einmal gewesen ist mit der Leichtigkeit des Lebens.
Ich lernte, dass ich jetzt die bin, deren Bruder gestorben ist. Dass dies nun mein langer, langer Weg ist. Dass es Kummer gibt, der nie mehr vergeht.
Es war so laut! Es tat so weh! Es gab kein Innen und kein Außen mehr. Mein Schmerz war so groß, größer als ein Land, größer als ein Meer, er war in vielen Momenten alles. Diese abstrakte Trauer, sie war verdammt noch mal konkret. Und so widersprüchlich. Nichts war mehr an seinem Platz. Nichts galt mehr. Worauf konnte ich mich noch verlassen? Am wenigsten auf mich selbst. Meine Gedanken rasten, mein Körper nicht. Ich war keine Einheit mehr. Ich war in Trauer. Ich lernte, dass ich jetzt die bin, deren Bruder gestorben ist. Dass dies nun mein langer, langer Weg ist. Dass es Kummer gibt, der nie mehr vergeht. Ich lernte aber auch, wie Millionen und Abermillionen vor mir, dass ich weiterleben, sogar gerne und gut weiterleben kann. Vielleicht, weil ich mich immer wieder neu dafür entscheide. Vielleicht auch, weil ich mich dem Schmerz stelle.
Nicht von Anfang an, doch mit der Zeit. Zuerst half mir Yoga, das ich vor dem Schicksalsschlag regelmäßig praktiziert hatte. Ungefähr ein dreiviertel Jahr nach Flos Tod konnte ich wieder damit beginnen, morgens nach dem Aufstehen, nur für ein paar Minuten und sicherheitshalber mit offenen Augen. Wenn ich die Augen schloss, war der ganze Schmerz gleich wieder da. Dann begann ich wieder zu wandern, außerhalb von Köln im Bergischen Land. Ich lief mir den Schmerz regelrecht ab, gab ihn durch die Füße an den Boden ab. Ich weiß noch genau, wie ich dachte: „Laufen ist das Sinnvollste, das ich gerade tun kann.“ Und dann hatte ich plötzlich das Gefühl, wieder mehr Menschen in mein Leben lassen zu wollen. Ich begann damit, bei mir daheim Spendenabendessen für jeweils zehn Gäste auszurichten. Es tat so gut, etwas zu tun! Dieses kleine ehrenamtliche Engagement, das ich mir da selbst gezimmert hatte, brachte mich in eine neue Energie: ins Tun, ins Miteinander – und in die Selbstwirksamkeit.
Und irgendwann war der Tag da, an dem ich mich fragte, welche Bewältigungsstrategien andere Betroffene für sich gefunden hatten. Und ob sie auch verletzende Erfahrungen mit ihrem Umfeld gemacht hatten. Ich erinnere mich zum Beispiel an Telefonate nach Flos Unfall mit engen Geschäftspartnern, in denen mein Verlust nur minimal zur Sprache kam, das Handballturnier der Tochter oder der Wochenendtrip mit der Skatrunde jedoch ausführlich diskutiert wurden. War es auch anderen Trauernden passiert, dass Nachbarn die Straßenseite wechselten, weil sie eine Begegnung vermeiden wollten? Hatten auch sie das Gefühl, dass Gespräche verstummten, wenn sie einen Raum betraten, oder dass sie sich auf die Zunge beißen mussten, um „nicht schon wieder“ mit „dem Thema“ anzufangen, auf die Gefahr hin, dass sie niemand mehr einladen würde?
Für mein Buch „Manchmal sucht sich das Leben harte Wege“ haben mir dreizehn Menschen aus meinem Umfeld ihre Schicksalsgeschichten anvertraut. Zum Beispiel Julia, deren Verlobter nur wenige Tage nach der Geburt der gemeinsamen Tochter nachts zuhause starb. Oder Martin, dessen halbe Familie von einem Geisterfahrer ausgelöscht wurde, als er auf Schüleraustausch in Frankreich war. Oder Sabine, die Fehlgeburten erlitt. Oder Vera, die ihren todkranken Vater beim Verhungern und Verdursten begleitete, weil es in Deutschland (noch) keine Sterbehilfe gibt.
Trauer macht einsam. Lasst uns das ändern!
Auf die eine oder andere Weise haben sie alle ihren Weg zurück ins Leben gefunden. Das schenkt unglaublich viel Hoffnung und Zuversicht und berührt tief unter der Haut! Sie alle haben aber auch erfahren: Trauer macht einsam. Lasst uns das ändern! Ich habe die Idee, dass wir dann, wenn es uns gelingt, uns in andere hineinzuversetzen, hilfreicher miteinander umgehen können. Besser zuhören, besser verstehen, fester halten.
Hier könnt ihr das Buch „Manchmal sucht sich das Leben harte Wege: Wahre Geschichten, die berühren und Zuversicht geben“ kaufen.
Teaserfoto: istockphoto/ Boyloso
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