Seit dem 7. Oktober ist die Welt eine andere. Die Debatte – auch hierzulande – über den Nahostkonflikt ist aufgeladen, die Fronten sind verhärtet und es lässt sich beobachten, wie die Sprache rauer wird. Gerade auf Social Media werden Informationen verbreitet, die zum Teil ungeprüft, nicht eingeordnet oder sogar propagandistisch sind. Hass und Antisemitismus nehmen zu. Wir sprechen mit Dr. Deborah Schnabel, Direktorin der „Bildungsstätte Anne Frank“ in Frankfurt am Main, über die Debatte, Medienkonsum, Antisemitismus und was wir tun können, um im Dialog zu bleiben.
Der Nahostkonflikt ist definitiv eine Projektionsfläche. Mein Kollege Meron Mendel, mit dem ich gemeinsam die „Bildungsstätte Anne Frank“ leite, hat das tolle Buch „Über Israel reden“ geschrieben. Er hat gesagt: Wenn wir über Israel reden, reden wir über uns selbst. Das trifft es ganz gut. Auf die Frage, warum der Nahostkonflikt bei so vielen Menschen so starke Gefühle auslöst und die Betroffenheit hier deutlich stärker ist als bei vielen anderen schwerwiegenden Konflikten auf der Welt, gibt es eigentlich keine rational erklärbare Antwort.
Gleichzeitig erleben wir es immer wieder, dass gerade in unserer Migrationsgesellschaft auch globale Konflikte nach Deutschland, in unsere Gesellschaft hinein schwappen. Dabei spielen natürlich auch die eigenen Erfahrungen und Geschichten eine Rolle. Und dazu zählen ganz sicher auch Ausgrenzungserfahrungen. Dazu zählt Rassismus, auch antimuslimischer Rassismus. Dazu zählt das transgenerationale Trauma des Holocaust von den meisten jüdischen Menschen in Deutschland.
Und sicher ist es so, dass sich in dieses Feindbild Israel auch der Schmerz von jahrhundertelanger kolonialer Unterdrückung durch den Westen mischt. Und wir sehen auch eine tiefe Ablehnung des Westens und vor allem der Vereinigten Staaten. Und viele jüdische Menschen sehen in Israel – und ich würde mich da einschließen – so was wie ihren letzten Zufluchtsort, wenn alle Stricke reißen, wenn der Antisemitismus wieder ins Unerträgliche ansteigt. Das heißt, die Existenz Israels ist für viele Jüdinnen und Juden ganz tief verankert und verwurzelt mit ganz eigenen existenziellen Fragen.
Mir geht es schlecht. Dieser 7. Oktober war wirklich wie ein Schlag, die Welt ist einfach eine andere. Gleichzeitig gab es auch schon vorher Antisemitismus und ich arbeite ja in diesem Feld. Ich habe in den letzten Jahren gebetsmühlenartig wiederholt, wie tief verankert der Antisemitismus in Deutschland ist. Wir sehen jetzt einfach, auf welchem Nährboden der Antisemitismus gewachsen ist und weiter wächst. Ich fühle mich natürlich auch in meinem Jüdischsein eingeschränkt und versuche gleichzeitig zu funktionieren für meine Arbeit.
Genau. Es blieb sowieso keine Zeit für Trauer. Bereits wenige Stunden nachdem die Welt von von dem Terroranschlag erfahren hat, gingen direkt die Debatten los. Wenige Stunden später konnte man von Meinungsführer*innen im Netz hören und lesen, dass das quasi die gerechte Strafe sei für das, was Israel an Politik in den letzten Jahren betrieben hat.
Dadurch, dass die Dynamik in den sozialen Medien so unfassbar schnell ist, starteten direkt die antisemitischen Anfeindungen. Für unsere Arbeit bedeutete es, dass tatsächlich direkt am Montag eine Flut von Beratungsanfragen gerade von Lehrkräften an Schulen gab. Das hat einfach eine unglaublich Schnelligkeit. Und wir sehen auch, dass Israel quasi zur Inkarnation des Bösen wird. Sowohl von der Rechten, als auch von der Linken kennen wir das eigentlich schon, aber es hat jetzt noch eine sehr große Dynamik von islamistischen Akteuren. Alle simplifizieren quasi und instrumentalisieren diesen hochkomplexen und schon jahrelang andauernden Konflikt quasi für ihre eigenen Interessen.
Darunter leidet sowohl die israelische als auch die palästinensische Zivilgesellschaft, aber auch Juden und Jüdinnen und Muslim*innen auf der ganzen Welt. Da tun sich gerade Gräben auf, die sehr schwerwiegend sind.
Ich bin definitiv der Meinung, dass das, was wir gerade erleben, zu einem tiefen Spalt führt. Wir als „Bildungsstätte Anne Frank“ arbeiten tatsächlich seit vielen Jahren relativ gleichwertig zu Antisemitismus und Rassismus und insbesondere zu antimuslimischen Rassismus. Und viele Kolleg*innen von mir haben sich stark dafür eingesetzt und damit auseinandergesetzt, wie Antisemitismus und Rassismus zusammengedacht werden können.
Da gab es viel Diskurs, viel Streit, auch Canceln, aber auch viel Annäherung und viele Gespräche. Und es ist tatsächlich gerade in den letzten zwei, drei Jahren durch die Black Lives Matter Bewegung auch eine Art Zusammenstehen gewachsen. Das ist tatsächlich jetzt seit dem 7. Oktober gebrochen.
Es gibt sehr viel Polarisierung und zu Recht wird von beiden Seiten Solidarität vermisst. Man darf auch nicht vergessen, dass die Geiseln ja immer noch verschleppt sind. Der Terror dauert also an. Das heißt, es gibt diesen Trauerprozess und gleichzeitig startete eine Welle von antisemitischen Angriffen. Man befindet sich also in diesem eigenen Schmerz. Und in diesem Schmerz ist es ehrlicherweise schwieriger, als wenn man in einem neutralen Gemütszustand ist, die Perspektive von anderen einzunehmen und empathisch zu sein.
Es ist gerade sehr wichtig, dafür Verständnis aufzubringen. Man hat einfach begrenzte Ressourcen und das sollten alle anerkennen. Man hat wirklich das Gefühl, dass diese Situation gerade instrumentalisiert wird, und zwar nicht nur von rechten Akteurinnen, sondern vom breiten Spektrum politischer Parteien. Das führt nicht dazu, dass diese Risse kleiner werden, sondern eher dazu, dass sie größer werden.
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Foto: Felix Schmitt