Dilar Kisikyol weiß, wie man sich durchschlägt: 1992 kam sie als Drilling mit gerade mal 1.500 Gramm auf die Welt, heute ist die Wahlhamburgerin die stärkste Frau der Welt. Seit 2022 steht Dilar an der Spitze der Weltrangliste im Boxen in der Leichtgewichtsklasse. Eine hohe Auszeichnung im Boxsport, von der Dilar dennoch nicht leben kann. Deshalb arbeitet sie als Sozialpädagogin und Gymnastiklehrerin.
Daneben engagiert sich die 30-Jährige stark für Frauen*, betreut eine Parkinson-Boxgruppe und ist mit ihren kurdischen Wurzeln Inklusionsbeauftragte des Hamburger Amateurboxverbandes. Wie sie zum Boxsport kam, wieso sie es wichtig findet, sich sozial zu engagieren, und warum wir als Gesellschaft etwas für Geschlechtergerechtigkeit im Sport tun müssen, erzählt Dilar im Interview.
Ich wusste einfach: Das ist es! Das Boxen hat alles verändert.
Dilar Kisikyol: Ich wollte immer zum Boxen, aber meine Mutter war dagegen. Sie meinte damals: „Das ist nichts für Mädels“ und hat mich stattdessen zum Fußball und zum Basketball angemeldet. Später wollten meine Eltern, dass meine Geschwister und ich ein Instrument lernen. Mich haben sie zum Klavierlernen angemeldet, aber das war überhaupt nicht mein Ding.
Das hat sogar die Klavierlehrerin bemerkt und meinen Eltern eine Abmeldung nach Hause geschickt mit den Worten, das habe überhaupt keinen Sinn mit mir. Meine Eltern haben mir dann endlich erlaubt, mit unserem Nachbarn zum Boxtraining zu gehen; er hat damals schon geboxt und war auch recht gut darin. Als ich dann vor der Halle stand und nur Jungs und Männer sah, habe ich mich erst mal gar nicht hineingetraut und bin wieder nach Hause gegangen.
Das will ich mit meiner Arbeit erreichen: dass Mädchen* und Frauen* keine Angst haben, zum Training zu gehen und diesen ersten Schritt wagen.
Ich habe vor dem nächsten Training eine Freundin gefragt, ob sie mich begleiten kann. Wir sind zusammen zum Training gegangen und da wusste ich einfach: Das ist es! Das Boxen hat alles verändert. Das will ich mit meiner Arbeit auch erreichen: dass Mädchen* und Frauen* keine Angst haben, zum Training zu gehen und diesen ersten Schritt wagen.
Sport kann so vieles bewirken. Ich war vorher nie gut in der Schule und plötzlich hatte ich ein Ventil. Ich finde es wichtig, dass wir Jugendliche abholen und ihnen Möglichkeiten zeigen, sich auszuleben, etwas zu entdecken, das ihnen Spaß macht und ihrem Leben einen Sinn gibt.
Ich habe oft Dinge zu hören bekommen wie: „Du siehst gar nicht aus wie eine Boxerin!“ Als einzige Frau* in einer Männerdomäne muss man mehr kämpfen. Auch, was das Geld angeht. Als Frau* kann man vom Boxsport immer noch nicht leben. Es ist immer noch nicht selbstverständlich, dass man als Frau* Geld für Wettkämpfe bekommt – dabei trainieren Frauen* genauso hart wie Männer.
Ich habe angefangen, mich um meine Sponsorenverträge selbst zu kümmern.
Man muss viel Eigeninitiative zeigen. Es kann ja auch positiv sein, dass man als Frau* weniger Konkurrenz hat als männliche Kollegen. Dadurch fällt man schon mal mehr auf. Ich habe angefangen, mich um meine Sponsorenverträge selbst zu kümmern. Da muss man sehr aktiv sein. Als Frau* muss man sich außerdem absichern und parallel etwas anderes aufbauen.
Ich habe mich nie mit einem „Nein“ zufriedengegeben – und das sollten andere Frauen* auch nicht. Als ich nach Hamburg kam, wollte ich als Sozialpädagogin im Boxverein arbeiten. Damals gab es dafür aber noch keine Kapazitäten. Ich habe mir nur gedacht: „Wissen die überhaupt, was sie verpassen?“
Ich bin dann direkt nach Hamburg gefahren und habe ein paar Monate später von dem Boxstall, bei dem ich mich als Pädagogin beworben hatte, das Angebot erhalten, professionell zu boxen. Wir Frauen* sollten an uns glauben und für uns einstehen. Wenn es dann immer noch „Nein“ heißt, weiß man wenigstens, dass man alles versucht hat und für sich eingestanden ist.
Ich habe mich nie mit einem „Nein“ zufriedengegeben – und das sollten andere Frauen* auch nicht.
Boxen macht selbstbewusst. Früher habe ich mich vor dem ersten Training nicht in die Halle getraut, heute halte ich Vorträge vor einem Publikum von 200 Menschen. Beim Boxen ist man total auf sich selbst gestellt, das stärkt das Selbstvertrauen, auch in anderen Bereichen. Das Leben hat so viele Kämpfe, die man als Frau* oder auch Mann* auszutragen hat, darauf bereitet einen das Boxen vor.
Ich finde, Deutschland bemüht sich da schon sehr. Aktuell passiert schon viel, es ist nur trotzdem leider schwer, alle zu erreichen. Zu manchen Gruppen hat man nur schwer Zugang. Ich denke, wir müssen da mehr weibliche Vorbilder schaffen, in die Kulturvereine und Vereine gehen.
Ich möchte allen Menschen, die wollen, Zugang zum Boxsport ermöglichen.
Wir hatten letztes Jahr in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Sportverbund einen Tag mit Menschen mit und ohne Handicap. Acht von 15 Teilnehmer*innen hatten ein Handicap und das ging super zusammen. Mir hat das noch mal verdeutlicht, dass der Boxsport für jeden etwas ist. Es ist nur die Frage, wie wir die Teilhabe ermöglichen. Um die Integration, Inklusion und Interkulturelle Bildung zu fördern, habe ich das Projekt „Du kämpfst“ gegründet. Damit möchte ich allen Menschen, die wollen, Zugang zum Boxsport ermöglichen.
Ich bin Frauen*- und Inklusionsbeauftragte des Hamburger Boxverbands und irgendwann haben zwei Frauen* mit einer Parkinson-Erkrankung nach einer Boxgruppe gefragt. Damals gab es noch keine, also habe ich beschlossen, die beiden zu trainieren. Inzwischen sind acht Frauen* in der Gruppe. Die Jüngste ist 43, die Älteste ist 80 Jahre alt.
Fotos: Dennis Gedaschke, Greta Martensen, Henrik Ellerhorst, Lukas Hoppe