Das Schicksal geflüchteter Menschen bewegt Fotojournalistin Judith Büthe seit Jahren. Ihr Engagement führte sie bereits auf die Balkanroute, wo sie Menschen bei ihrer Flucht dokumentiert. Allein in den letzten beiden Jahren war sie für verschiedene NGOs in neun Ländern tätig. 2016 entschließt sie sich zu einem zweiwöchigen Einsatz auf der Sea-Watch 2. Jährlich ertrinken Tausende Menschen bei dem Versuch, einen sicheren Hafen der EU zu erreichen. Der Sea-Watch e. V. betreibt mithilfe von Freiwilligen seit 2015 private Seenotrettung vor der libyschen Küste, zuvor war er in der Ägäis im Einsatz. Im Jahr 2015 konnten so über 5.000 Menschen gerettet und versorgt werden. 2016 sogar 20.000 Menschen. Zusammen mit fünfzehn weiteren Crew-Mitgliedern fährt Judith Büthe vergangenen Oktober raus auf das Mittelmeer und hilft den Geflüchteten in ziellos umhertreibenden Gummibooten. Dabei erlebt sie Momente voller Leid und Tod, aber auch Momente der Freude und Hoffnung. Per Skype erzählt sie uns von ihren Erlebnissen – wir zeigen eine Auswahl ihrer Bilder, die während ihres Einsatzes entstanden sind.
femtastics: Wie hast du dich auf den Einsatz auf der Sea-Watch vorbereitet? Hast du vorher spezielle Trainings absolviert?
Judith Büthe: Es gab im Vorfeld Telefonkonferenzen, bei denen die Positionen belegt wurden. Vor Ort in Malta hatten wir, nachdem die vorige Crew mit der Sea-Watch zurückgekehrt war, zwei Tage Zeit, uns einige Sachen anzueignen und das Schiff kennenzulernen. Es sind ja nicht nur Nautiker dabei, sondern auch Software-Entwickler oder Jura-Studenten. Wir haben Erste-Hilfe-Maßnahmen wiederholt und wurden mental auf den Einsatz vorbereitet. Außerdem haben wir trainiert, wie man Rettungseinsätze mit Speedbooten fährt. Wir haben „Mann über Bord“ geübt und den Notfall Feuer an Bord geprobt.
Dann seid ihr in Richtung libysche Küste aufgebrochen. Wie läuft der Tag an Bord ab?
Es gibt routinierte Abläufe. Wettertechnisch erfolgt immer eine Einschätzung, wie viele Flüchtlingsboote in etwa losgefahren sind. Rund um die Uhr gibt es einen Wachdienst, aber auch eine Besetzung auf „Monkey Island“, von wo aus die Gummiboote gesichtet werden können. Speedboote werden vorbereitet, der Medizinraum auf Vordermann gebracht und Essen vorgekocht, sofern Gäste von den Flüchtlingsbooten an Bord kommen. Die Sea-Watch 2 patrouilliert vor der libyschen Küste und hat sich den Erstkontakt und die Erstversorgung zur Aufgabe gemacht, daher hält sie sich immerzu im Suchgebiet auf. Den Transport der geretteten Menschen übernehmen Transportschiffe beispielsweise von anderen NGOs, mit denen Sea-Watch kooperiert.
Während unseres Einsatzes waren die Boote allerdings so überladen und in einem so schlechten Zustand, dass die Geflüchteten an Bord der Sea-Watch 2 genommen wurden.
Mit überfüllten Booten wagen sich die Menschen in Libyen auf die gefährliche Überfahrt Richtung Europa.
Wie kann man sich das vorstellen: Die Flüchtlingsboote treiben ziellos auf dem Meer umher?
Ja, das kann man so sagen. Mit überfüllten Booten wagen sich die Menschen in Libyen auf die gefährliche Überfahrt Richtung Europa. Das Problem ist, dass wir niemals näher als zwölf Seemeilen an die libysche Küste kommen. Das ist die Grenze, hinter der das staatliche Hoheitsgewässer beginnt. Es ist also kein internationales Gewässer mehr, sondern libysches Gebiet. Der Sprit der Flüchtlingsboote reicht meistens genau soweit, dass sie knapp über die Grenze kommen. Die Schleuser kalkulieren entsprechend.
Das heißt, die Schlepper kalkulieren mit ein, dass ihr da seid?
Die Schlepper rechnen mit uns, ja. Aber drehen wir den Spieß mal um: Wären da keine NGOs im Mittelmeer vor unseren Grenzen, würden die Menschen sterben. Es muss die Aufgabe der EU sein, hierfür Verantwortung zu tragen.
Es ist oftmals der erste Moment nach Jahren, in dem sich die Geflüchteten sicher fühlen.
Wenn ihr auf ein Boot trefft, muss schnell gehandelt werden – hattest du darüber hinaus die Möglichkeit, mit Geflüchteten in Kontakt zu treten?
Bei den ersten Einsätzen war das nicht möglich, weil die Situationen einfach zu extrem und gefährlich waren. Wir hatten keine Zeit, mit den Geflüchteten zu sprechen, sondern mussten zusehen, dass wir sie an Bord bringen und medizinisch versorgen. Wenn wir aber Geflüchtete an Bord genommen haben, damit sie auf Transferschiffe warten können, hatten wir die Möglichkeit, gute und intensive Gespräche zu führen. Wir haben die Geflüchteten bekocht und uns mit ihnen ausgetauscht. Das ist ein wichtiger Moment, denn es ist oftmals der erste Moment nach Jahren, in dem sich die Geflüchteten sicher fühlen.
Du hast miterlebt, wie die libysche Küstenwache in einen eurer Rettungseinsätze eingegriffen hat. Was genau ist passiert?
Es war die Nacht vom 20. auf den 21. Oktober. Wir befanden uns etwa 14 Seemeilen vor der libyschen Küste, als die libysche Küstenwache während unseres Rettungseinsatzes ein vollbesetztes Schlauchboot geentert, die Migranten mit Stöcken geschlagen und unsere Crew davon abgehalten hat, Rettungswesten zu verteilen. Durch das brutale Eingreifen brach Panik aus: Alle 150 Insassen fielen ins Meer, etwa 20 bis 30 Menschen ertranken. Unsere Crew konnte vier Leichen bergen und 120 Personen retten.
Die libysche Küstenwache versuchte, das Gummiboot am Schlauch an sich ranzuziehen, entweder wollten sie wieder in die 12-Meilen-Zone zurück oder sie wollten den Motor kapern. Den können sie auf der libyschen Seite auf dem Festland nämlich gut verkaufen.
Wir wussten alle vorher, worauf wir uns einzustellen haben, aber auf dieses Ausmaß war keiner gefasst.
Ist das eine Maßnahme zur Abschreckung seitens der libyschen Küstenwache?
In der Form gab es das bisher nicht, jedoch hat die libysche Küstenwache zwei Monate vorher ein Schiff von „Ärzte ohne Grenzen“ beschossen. Der Vorfall wird jetzt strafrechtlich verfolgt. Es wird auch darüber berichtet, aber wahrscheinlich verläuft es im Sande.
Was ging dir während des Vorfalls durch den Kopf?
Als Crew-Mitglied hast du funktioniert und gar nicht realisiert, was das gerade passiert. Wir hätten sehr gerne die Menschen, die vor unseren Augen ertrunken sind, geborgen und sie nicht einfach dem Meer überlassen. Es war mitten in der Nacht und wir haben es schlichtweg nicht geschafft, alle Menschen zu retten. Wir konnten nur vier Tote mitnehmen und an ein Schiff von „Ärzte ohne Grenzen“ übergeben. Die kümmern sich um die Identifizierung und es gibt die Möglichkeit, die Menschen auf Lampedusa zu begraben. Wir hatten mit viel Tod und Leid zutun. Wir wussten alle vorher, worauf wir uns einzustellen haben, aber auf dieses Ausmaß war keiner gefasst.
Man kann sich auf sowas auch nicht vorbereiten. Hat das Team danach Zeit, diese Erlebnisse zu verarbeiten?
Bei uns ging es von Einsatz zu Einsatz. Wir haben wenig geschlafen. Aber das Team war super eingespielt und wir konnten uns gut austauschen. Unser Kapitän fährt seit Jahrzehnten für Greenpeace und unser Einsatzleiter ist ebenfalls aus der Seefahrt, sie haben beide viel Erfahrung und haben uns wieder zusammengeholt. Wir haben viele Gespräche geführt darüber, ob wir wieder zurückfahren, aber keiner wollte.
Die Crew hat nie mit dem Gedanken gespielt, zurückzufahren.
Warum stand eine Rückkehr nicht zur Debatte?
Die Crew hat nie mit dem Gedanken gespielt, zurückzufahren. Aber es gibt natürlich eine Crew an Land und Angehörige, die sich Sorgen machen und uns gebeten haben, eine Pause einzulegen. Das haben wir dann auch getan. Aber wir wussten, dass draußen unglaublich viele Menschen in Not und nur wenige Einsatzschiffe vor Ort sind. Also sind wir wieder los.
In dem Moment hatten wir das Gefühl, die Geflüchteten hätten uns das Leben gerettet und nicht andersrum.
Überwiegen bei so einem Einsatz die negativen Momente?
Nein, überhaupt nicht. Mir sind unglaublich viele positive Momente in Erinnerungen geblieben. Die Crew ist zu einer Art Familie geworden. Wir stehen immer noch in einem sehr engen Kontakt. Das Gefühl, rund um die Uhr eins mit der Natur zu sein – so kitschig das klingen mag – ist unglaublich faszinierend. Nach einem schlimmen Einsatz stehst du am nächsten Morgen an Bord, Möwen fliegen um dich rum und Delfine begleiten dich.
Es wurde gesungen, Tränen sind geflossen und wir haben in glückliche und lächelnde Gesichter geschaut.
Am letzten Tag haben wir einen Notruf bekommen. Es waren Geflüchtete, die schon viele Stunden auf dem Wasser waren. Man erwartet das Schlimmste, aber sie waren in einem körperlich guten Zustand. Wir haben sie an Bord genommen, es waren ausschließlich junge Leute dabei. Wir haben uns aus unserem Leben erzählt. Sie haben uns von ihrer Zeit in Libyen und den Umständen vor Ort berichtet, von Misshandlungen und Vergewaltigungen beispielsweise. Und von den Beweggründen für die Flucht. Ihnen war es egal, ob sie auf dem Wasser sterben. Sie wollten einfach nicht in dem Land bleiben und haben deshalb die gefährliche Überfahrt in Kauf genommen. Es wurde gesungen, Tränen sind geflossen und wir haben in glückliche und lächelnde Gesichter geschaut. In dem Moment hatten wir das Gefühl, die Geflüchteten hätten uns das Leben gerettet und nicht andersrum.
Die Flüchtlingsströme reißen nicht ab, es mutet wie ein Kampf gegen Windmühlen an. Hast du dieses Gefühl manchmal auch?
Es muss sich definitiv etwas ändern. Klar, die Sea-Watch 2 fährt weiterhin raus. Aber es wäre schöner zu wissen, dass die politische Lage und die Situation der Menschen in ihrem Land eine bessere wäre. Momentan gibt es keine andere Alternative. Aufgrund der Situation haben sich einzelne Einsatzschiffe dazu entschieden, die Wintermonate durchzufahren – was auch für die Besatzung ein Risiko ist. Die Sea-Watch 2 liegt aktuell im Hafen von Malta. Der tägliche Rettungseinsatz bringt das Schiff oft an die Grenzen der Belastbarkeit. Über die Wintermonate wird sie nun von freiwilligen HelferInnen auf die nächsten Fahrten vorbereitet.
Wir reden hier über Menschen, die ihr Leben riskieren und somit ihren Tod in Kauf nehmen.
Was wünscht du dir als Fotografin von der Medienberichterstattung?
Sicherlich muss man entscheiden, was man im welchem Kontext zeigt. Aber zu sagen, wir haben schon so viel in den Medien dazu gesehen, wir brauchen keine weiteren Bilder mehr – das ist keine Maßnahme. Sich dann mit Berichterstattung zurückzuhalten, weil die Menschen denken, sie seien bereits übersättigt, das funktioniert nicht. Wir reden hier über Menschen, die ihr Leben riskieren und somit ihren Tod in Kauf nehmen.
Man muss die Leute regelmäßig wachrütteln. Wir hoffen, einen kleinen Beitrag dazu leisten zu können. Vielen Dank für deine Eindrücke, liebe Judith!
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