Orient statt Westen: Warum Frauen nach Saudi-Arabien heiraten

14. Februar 2017

Layla lebt in Hamburg und beschließt, einen nahezu fremden Mann in ihrer alten Heimat Saudi-Arabien zu heiraten. Ihr Bruder Basil reist nach Jeddah zur Hochzeit – und zurück in die Vergangenheit. Er trifft auf seine liebevoll-skurrile Verwandtschaft und versucht herauszufinden, warum sich seine freiheitsliebende Schwester für das Leben in einem Land entscheidet, in dem Frauen alles andere als frei sind. So das Thema von Rasha Khayats Roman “Weil wir längst woanders sind”. Eine Geschichte, die viele Menschen nur schwer nachvollziehen können. Warum eigentlich? Wir treffen die Autorin, 38, im Hamburger Café Leonar und sprechen über Entortung, Zugehörigkeit, Freiheit und den unterschiedlichen Stellenwert, den die Familie in Deutschland und auf der arabischen Halbinsel einnimmt.

In der arabischen Welt bedeutet Familie das, was es bei uns zur Jahrhundertwende bedeutet hat.

femtastics: In deinem Roman geht es darum, welchen Stellenwert die Familie im Leben einnimmt und auch um den deutsch-arabischen Vergleich. Man bekommt den Eindruck, in Saudi-Arabien habe die Familie einen höheren Stellenwert. Ist das so? 

Rasha Khayat: Höher ist vielleicht nicht das richtige Wort, denn das gibt eine Hierarchie vor. Es ist ein anderer Stellenwert, denn die arabische Gesellschaften insgesamt funktionieren ganz anders. Das ist nicht nur spezifisch für Saudi-Arabien. Es sind Sippengesellschaften, teilweise Beduinenvölker, die andere Traditionen mitbringen. Aber klar, in der arabischen Welt bedeutet Familie das, was es bei uns zur Jahrhundertwende bedeutet hat.

Der familiäre Raum schützt dich, gibt Sicherheit und versorgt dich. Das bringt aber auch Verpflichtungen mit sich und erzeugt einen gewissen Druck. Die individualisierten Gesellschaften, wie wir sie hier in Europa oder speziell in Deutschland haben – die ich übrigens noch mal krasser finde – die gibt es da nicht.

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„Weil wir längst woanders sind“ ist der erste Roman von Rasha Khayat.

Warum sind so viele Menschen hier genervt von ihren Familien? Die Mehrzahl will nach der Schule unbedingt ausziehen, länger im “Hotel Mama” zu wohnen, kommt verdammt uncool und viele haben ein Problem damit, die Eltern im Alter zu sich zu nehmen.

Vieles hat mit wirtschaftlichen Faktoren zutun. Man kann es sich jobmäßig oft gar nicht leisten, da zu bleiben, wo man aufgewachsen ist. Man findet schlicht keinen Studien- oder Arbeitsplatz. Es ist eine viel beweglichere Gesellschaft als die Generation unserer Eltern. Dadurch tritt eine natürliche Form der Entfremdung ein. In meiner Generation wurde ein großer Fokus darauf gelegt, dass wir alles erreichen können. Es ist ein Privileg, zu studieren oder eine Ausbildung zu machen, wo immer man will. Du kannst aber auch Hausfrau, Mutter, Delfintrainerin oder Ballerina werden.

Du musst dich also in irgendeiner Form für einen individualisierten Lebensweg entscheiden. Als Frau kannst du selbst für deinen Lebensunterhalt aufkommen, das war bei unseren Großmüttern noch nicht so. Für unsere Mütter war das auch noch schwierig. Hinzu kommt die sinkende Geburtenrate. Die wenigsten Kinder in meiner Schulklasse hatten mehr als ein Geschwisterteil. Das heißt, die Familien sind ohnehin kleiner geworden. Meine Großmutter hatte noch sechs Geschwister, meine Mutter drei Geschwister. Alle diese Faktoren greifen ineinander. Klar tritt eine Entfremdung ein, wenn man sich weniger sieht. Du bist auch nicht mehr so konfliktbereit. Alle Skills, die du in einer Großfamilie haben musst und die sich da auch ausbilden, um zu funktionieren, verkümmern, wenn du als allein lebender Mensch 400 Kilometer entfernt von deiner Familie lebst.

Dabei wären gerade diese Skills in unserer komplexen Welt absolut nützlich.

Absolut. Andererseits ist ein Streben nach oben oder nach vorne natürlich umso schwieriger, je mehr Leute an dir dran hängen. Es ist auch schwierig, daraus ausbrechen. Die Familie lässt dich nicht los, du musst auf die Oma und die Kinder deiner Schwester aufpassen und es wird dir übel genommen, dass du weit weg ziehst. Familie ist unfassbar komplex und emotional, deswegen sind die Konflikte auch universell – egal, ob du über arabische oder über europäische Familien sprichst. Zunder gibt es überall.

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Wir treffen uns in Rashas Lieblingscafé – das Café Leonar im Hamburger Grindelviertel.

Was auch im Roman mitschwingt, ist, dass in Deutschland Liebe unterdrückt wird, während sie in arabischen Ländern ohne Scham gezeigt wird. Alles wirkt viel herzlicher. Ist das so? 

Das ist auf jeden Fall so und da lasse ich auch nicht mit mir reden. Natürlich gibt es auch da wieder Unterschiede, aber die deutsche Gesellschaft ist schon wahnsinnig vom Protestantismus und Puritanismus geprägt. Die Menschen sind sehr zurückhaltend und Gefühle zeigen, ist fast schon was für Untermenschen.

Alle sind sehr kontrolliert.

Contenance wird hier positiv bewertet. Von meinen deutschen Großeltern kam am häufigsten der Spruch: Reiß dich zusammen! Egal in welcher Lebenslage. Das kennen sehr viele. Das macht viel mit der Herzkanalverbindung. In der arabischen Welt wird gar kein Unterschied gemacht, alle Emotionen werden offen gezeigt, und das gefällt mir sehr gut.

Es gibt Menschen, die fühlen sich von zu viel Liebe erdrückt.

Man kann auch mit Liebe erschlagen, klar. Es geht um das Austarieren der Pole, was nicht einfach ist. Wenn du in der deutschen Gesellschaft aufwächst, wo du maßvoll und kontrolliert sein musst, ist das nicht einfach. Auf der anderen Seite sind das Dinge, die das Land auch weitergebracht haben. Ich weiß auch, dass ich viel davon habe, aber es lässt sich bei mir nicht auf den Emotionsapparat übertragen.

Es gibt kein pauschales richtig und kein pauschales falsch, diese Tür versucht das Buch aufzumachen.

Ich kann Laylas Entscheidung, nach Saudi-Arabien zu gehen, um einen nahezu fremden Mann zu heiraten, bedingt nachvollziehen. Es ist ein Schritt zurück zu einem einfacheren, weniger komplexen Leben mit klaren Strukturen. Inwieweit hast du Verständnis für ihre Entscheidung?

Ich kann es emotional nachvollziehen, weil ich die Motive verstehe, weswegen sie sucht und wonach sie sucht. Es gibt kein pauschales richtig und kein pauschales falsch, diese Tür versucht das Buch aufzumachen. Ich persönlich würde diesen Weg nicht gehen. Aber nur, weil du selber irgendwas nicht tun würdest, heißt das ja aber nicht, dass du es nicht nachvollziehen und verstehen kannst. Das scheint aber etwas zu sein, was den Menschen grundsätzlich schwer fällt.

Weil sie nicht genügend Empathie haben?

Es hat ganz viel mit Empathie zu tun, ja. Ich belehre nicht, sondern berühre. Mich hat das weitergebracht, über Layla nachzudenken und darüber, warum Menschen solche vermeintlich extremen Entscheidungen treffen. Ich weiß gar nicht genau, ob ihr Leben einfach ist. Mir wäre es viel zu anstrengend und kompliziert, in einer Großfamilie funktionieren zu müssen.

Weil es ein Stück weit Selbstaufgabe bedeutet?

Es bringt mit sich, dass man sich über etwas Anderes definiert und sich selbst zurückstellt. Layla definiert sich als Ehefrau, als Tochter, als Nichte, als Familienmitglied – und nicht mehr als Einzelstück. Das ist aber etwas, was man immer austarieren muss, wenn man sich in eine feste Struktur begibt – nicht nur, wenn man in eine arabische Großfamilie einheiratet. In jeder Partnerschaft musst du Kompromisse machen. Layla hat dazu die Schnauze voll von Rassismus und der Kälte, die ihr in Deutschland entgegenschlägt. Das kann ich sehr gut nachvollziehen.

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Gleichzeitig entscheidet sie sich für ein unfreieres Leben, in dem sie nicht Auto fahren darf und ihren Mann fragen muss, wenn sie arbeiten will. Trotzdem wirkt Layla gelöster und dadurch auch irgendwie freier – inwieweit passt das zusammen?

Freiheit ist nicht gleich Freiheit. Was wir hier als frei begreifen, nämlich, dass ich mich als Frau hinters Steuer setzen kann – was heißt das denn? Es ist eine Hybris der westlichen Gesellschaft, festzulegen, dass man unfreier ist, weil man nicht Auto fahren darf. Nach unseren Standards stimmt das natürlich. Aber in dem Moment, in dem Layla das Gefühl hat, dass sich eine Lücke für sie schließt und dass sie endlich sein kann, wer sie ist, und ihrer Persönlichkeit und ihrem Potential endlich Raum geben kann, ist sie viel gelöster und freier. Da gehört Auto fahren nicht dazu. Ich würde meine Freiheit auch nicht darüber definieren, dass ich Auto fahren kann. Menschen sind sehr festgefahren in ihren Denkweisen. Daran zu rütteln, das macht mir Spaß.

Es tut weh zu lesen, wie aus dem lachenden Mädchen eine traurige, entwurzelte Frau wird, deren Liebe nicht erwidert wird. Findet Layla ihr Seelenheil schließlich in der Liebe?

Sie findet es in der Familienliebe und in der Zugehörigkeit. Nicht mehr als einzelnes Puzzlestück durch die Welt zu gehen, sondern sich als Teil eines großen Bildes zu begreifen. Ich habe auch einen großen Bezug zu meiner Familie und wäre ohne sie auch verloren. Wir kommunizieren auf Tagesbasis, was viele nicht verstehen können.

Das ganze Thema Identitätskrise gab es damals nicht.

Ich habe Freunde mit Migrationshintergrund, die sagen, dass der Schmerz des Entwurzeltseins nie aufhört und immer da ist. Dann habe ich Freunde, die ihre Identität als hybrider wahrnehmen, gar nicht mehr klar zuordnen, was woher kommt. Wie ist deine persönliche Erfahrung?

Es hat viel mit dem Alter zu tun, also, wann du nach Deutschland gekommen bist und auch in welcher Zeit du hergekommen bist. Ich bin in den Achtzigern mit 11 Jahren in eine deutsche Kleinstadt gekommen. Wir waren die einzigen Ausländer. Das ganze Thema Identitätskrise gab es damals noch gar nicht.

Für mich sind es zwei Identitäten, es ist, als wenn zwei Menschen in meinem Leben sind, denen ich sehr nah bin und die sich irgendwie ausschließen. Der eine gibt dir was, was der andere dir nicht geben kann. Das ist aber wirklich persönlichkeitsbedingt. Ich habe auch Freunde mit Migrationshintergrund, bei denen das gar kein Thema ist. Im Laufe der letzten Jahres sind aber auch viele Bekannte auf mich zugekommen, die Ähnliches in ihrem Bekanntenkreis erlebt haben, also, dass Frauen in den Iran, in den Libanon oder nach Palästina geheiratet haben.

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Identität und Integration sind momentan mehr denn je Thema. Andere Kulturen sollten als Bereicherung angesehen werden, es wird aber vor allem auch sehr viel Anpassung verlangt. Wie ist deine Wahrnehmung? Wie viel Anderssein ist erlaubt?

Ich habe auch das Gefühl, dass es schwer ist, hier einen Mittelweg zu finden. Zum einen darfst du den Geflüchteten, die oftmals aus politischen Gründen geflohen sind, das bisschen nicht auch noch wegnehmen – sei es die Sprache oder die Musik, zum Beispiel. Auf der anderen Seite muss jeder, der sich hier ein Leben aufbauen will, natürlich die Sprache können und sich einigermaßen vertraut machen mit der Art und Weise, wie man hier lebt. Das heißt aber noch lange nicht, dass das Tragen von Kopftüchern verboten wird. Es ist ein Balanceakt, der viel mit Empathie zu tun hat.

Ich habe lange in Flüchtlingsunterkünften gearbeitet, hier war die Schwierigkeit, dass die Gruppen sich untereinander nicht gemischt haben. Beide Seiten sind gefordert, jeder sollte auf den anderen zugehen, aber annektiert werden sollte keiner.

Danke dir für das spannende Gespräch, liebe Rasha!

Hier findet ihr Rasha Khayat:

Fotos: femtastics

2 Kommentare

  • magic sumatra sagt:

    Ich finde es zwar gut, dass der positive Aspekt des familiären Zusammenlebens in arabischen Staaten
    im Vergleich zu Europa bzw. Deutschland Haupt-Thema des Artikels ist und hervorgehoben wird.
    Ich habe das Buch nicht gelesen.

    Trotzdem finde ich, dass viel zu wenig auf die tatsächliche, reale Situation der Frauen in Saudi-Arabien eingegangen wird.
    Sie sind einem Schutz- bzw. Beschützersystem unterworfen. Das heißt, sie dürfen eigentlich garnichts freiwillig entscheiden
    und was so positiv klingt, ist ein patriarchalisch-strukturiertes Unterdrückungssystem. Sie dürfen nicht autofahren, selbst wenn sie oder ihr Mann oder ihre Väter es wollen. Sie dürfen ohne Erlaubnis nicht arbeiten – wenn es dieses „go“ also vom Mann/Vater nicht gibt, dann haben sie Pech gehabt und es kommt leider noch in der Mehrzahl der Fälle vor. Medizinische Versorgung ist nach wie vor schwierig – sie haben keinen Zugang dazu bzw. auch hier entscheiden andere für sie. Genauso wie Bildung/Ausbildung und universitäre Bildung. Man kann also nur hoffen, dass die Heldin des Buches nicht irgendwann ihre Freiheiten doch leben will und dann plötzlich feststellen muss, dass ihr Mann sie nicht lässt.

    • Lisa van Houtem sagt:

      Hallo Magic Sumatra,
      vielen Dank für deinen Kommentar! Tatsächlich werden die von dir angesprochenen Aspekte in dem Roman angesprochen, zumal die Geschichte eben aus der Sicht des Bruders erzählt wird, der versucht, die Entscheidung der Schwester nachzuvollziehen. Ohne zu sehr vorwegzugreifen – die Geschichte endet mit Laylas Hochzeit, ihre Zukunft bzw. ob sie ihre Entscheidung in welcher Hinsicht auch immer zu einem späteren Zeitpunkt bereut, bleibt somit ungewiss.
      Liebe Grüße,
      Lisa

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