Es gibt zu wenige inspirierende, positive Vorbilder jenseits der 60, findet Greta Silver. Die Wahlhamburgerin ist YouTuberin, Podcasterin, Buchautorin, Rednerin, Model, und ihr Motto lautet: „zu jung fürs Alter“. Die 72-Jährige möchte unsere Vorstellungen davon, was „das Alter“ ausmacht, gehörig aufmischen, Lebensfreude verbreiten und uns dabei helfen, glücklicher durchs Leben zu gehen – in jedem Alter. Die Lebenszeit von 60-90 ist genauso lang wie die Lebenszeit von 30-60 – eigentlich eine simple Rechnung, aber diese Erkenntnis hat Greta die Augen geöffnet. Warum das Leben in jedem Lebensabschnitt viel Gutes für uns bereithält, was ihre größten Erkenntnisse über das Glück sind, und warum wir alle jederzeit offen für einen Neustart im Leben sein sollten, erzählt uns Greta im Interview.
Greta Silver: Als ich 66 Jahre alt war habe ich meinen YouTube-Kanal eröffnet. Mir war es einerseits wichtig, einen Namen zu haben, den man sich gut merken kann, andererseits wollte ich meine Privatsphäre schützen. Mittlerweile ist mein Name „Greta Silver“ als Künstlername sogar in meinem Perso eingetragen.
Eine Freundin hat damals zu mir gesagt: „Greta, Du lebst das Alter irgendwie anders, Du musst der Welt erzählen, wie das geht.“ Wir kamen auf die Idee für den YouTube-Kanal – und damit habe ich tatsächlich direkt am nächsten Tag angefangen. Zunächst habe ich recherchiert, zu welchen Themen es für die Zielgruppe in meinem Alter schon viele Inhalte gibt. Dann kam ich darauf, was eigentlich mein persönliches Thema ist: Wie man glücklich leben kann. Bei mir war ja auch nicht immer alles Friede-Freude-Eierkuchen, ich habe im Leben viele Herausforderungen erlebt, aber ich habe es geschafft, diese Krisen zu überwinden. Dazu habe ich kleine Videos gemacht.
Aber mein Problem war, dass ich am Anfang gar nicht gefunden wurde. Ich habe lange durchgehalten, überall im Netz Kommentare und Hinweise auf mich hinterlassen, und auf diese Weise habe ich Menschen neugierig auf mich gemacht. Aber das war harte, lange Arbeit.
Anfangs hatte ich gar kein Ziel. Aber ich habe gemerkt, was meine Arbeit für andere Menschen bedeutet. Und das ist bis heute das größte Geschenk: zu sehen, dass ich einen Grauschleier vom Image des Alters wegreißen und Menschen eine Last abnehmen kann. Schon jungen Menschen liegt diese Last auf den Schultern, dass sie Angst vor dem Alter haben und denken, mit 60 ginge es nur noch bergab. So habe ich früher ja auch gedacht. Aber so ist es nicht.
Dass das Leben im Alter vorbei ist. Meine Mutter hat mir vieles positiv vorgelebt, aber ich wusste lange nicht, welche Möglichkeiten das Leben noch bereithält. Ich hatte auch nicht verinnerlicht, dass die Lebenszeit von 60 bis 90 genauso lang ist wie die Zeit von 30 bis 60. Das ist so eine simple Rechnung, aber das hat mir die Augen geöffnet.
Auch, dass man ein Lebens-Know-how hat, das man einsetzen kann. Das Wissen, die Erfahrungen und die Gelassenheit nehmen zu. Wir alle müssen durch Lebenskrisen durch und was wir dabei lernen, das macht uns stark.
Vor ein paar Tagen habe ich das Publikum bei einem Vortrag gefragt: Wie stellt ihr euch einen 90-Jährigen oder eine 90-Jährige vor? Wenn es ein Mann war, sah er aus wie Helmut Schmidt? Wenn es eine Frau war, sah sie aus wie Iris Apfel? Es geht darum, welche Bilder wir im Kopf haben. Die Hirnforschung heute weiß: Dein Gehirn wird alles tun, damit du Recht behältst. Das heißt, unsere eigenen Gedanken und Vorstellungen bestimmen wie wir leben. Dieser Respekt vor den eigenen Gedanken ist enorm wichtig.
Schon als junge Frau. Mein Mann und ich wollten Kinder bekommen, aber es hat lange nicht funktioniert. Wir haben dann an Adoption gedacht und uns ernsthaft die Frage gestellt: Könnten wir ein adoptiertes Kind genauso lieben wie unser eigenes? Als wir das für uns beide bestätigt hatten, wurde ich im nächsten Monat schwanger. Ich glaube, mit meinen Gedanken habe ich körperliche Abläufe dirigiert. Damals habe ich das Thema „Gedankendisziplin“ für mich entdeckt.
Die Hirnforschung heute weiß: Dein Gehirn wird alles tun, damit du Recht behältst. Das heißt, unsere eigenen Gedanken und Vorstellungen bestimmen wie wir leben.
Ich möchte Herrin meiner eigenen Gedanken sein. Ich möchte nicht alles denken, was da oben aufploppt. Wenn ich etwas Negatives denke, frage ich mich: Möchte ich das denken? Muss ich diesen fremden Menschen – oder mich selbst – verurteilen?
Das Glück hängt ganz stark damit zusammen, was wir denken. Als ich dachte, keine Kinder bekommen zu können, habe ich begonnen, mich intensiv mit der Frage zu befassen, was ich zum Glücklichsein brauche. Ich habe mich gefragt: Willst du dein persönliches Glück wirklich auf diese kleinen Schultern legen? Was ist das für eine Verantwortung für ein Kind? Es gab in meinem Leben immer wieder Anlässe, über dieses Thema nachzudenken. Daraus sind jetzt schon fast 500 Filme für meinen YouTube-Kanal entstanden.
Eine der wichtigsten Erkenntnisse war: Ich bin selbst verantwortlich für mein Glück. Irgendwann in meinem Leben habe ich festgestellt, dass ich Geheimverträge laufen hatte, hinter dem Rücken von Menschen, die davon gar nichts wussten. Ich hatte ihnen die Verantwortung für mein Glück übertragen und ihnen die Schuld für mein Unglück in die Schuhe geschoben. Wenn mein Chef netter wäre, wenn mein Partner liebevoller wäre, … dann wäre ich glücklich. Ich dachte zum Beispiel lange, mein Mann müsse für mein Glück verantwortlich sein.
Dann habe ich festgestellt, dass alle anderen Menschen genau solche Verträge ohne mein Wissen auch mit mir laufen hatten: Ich sollte für ihr Glück verantwortlich sein. Meine Mutter, meine Geschwister, … Und die Sprache zwischen den Geheimagenten ist, dass man sich gegenseitig ein schlechtes Gewissen macht, wenn man die Erwartungen der anderen nicht erfüllt. Das passiert in allen Lebensbereichen. Ich selbst war darin auch sehr gut.
Ich hatte anderen Menschen die Verantwortung für mein Glück übertragen und ihnen die Schuld für mein Unglück in die Schuhe geschoben.
Ich habe damit angefangen, meinem Umfeld klarzumachen, dass sie selbst für ihr Glück verantwortlich sein sollen. Mein Mann kommt zum Beispiel nach Hause und sagt: „Oh, ich habe solche Kopfschmerzen.“ Ich frage: „Hast du heute denn mal Wasser getrunken?“ Rate mal, wer in die Küche gegangen ist und Wasser geholt hat? Er sagte dann vielleicht noch: „Was meinst du, was heute auf meinem Schreibtisch los war?“ oder Ähnliches. Irgendwann habe ich mir gedacht: Bist du eigentlich bescheuert? Und ich habe zu meinem Mann gesagt: „Du bist volljährig, du kannst die Verantwortung für deine Kopfschmerzen selbst übernehmen.“ Er hat erst gar nicht verstanden, was ich meine.
Wir hatten, wie wahrscheinlich alle Paare, unsere Aufgabenteilung. Es gab eine Phase, in der ich mehr gearbeitet habe und mein Mann mehr zu Hause war. Er sollte dann Kleinigkeiten erledigen wie zum Beispiel Kleidung zur Reinigung bringen. Wenn ich abends nach Hause kam, hatte er es vergessen. Ich war wütend und wollte ihn bestrafen, indem ich schlecht gelaunt war und gemeckert habe. Aber wen habe ich damit bestraft? Mich selbst!
Dann hat sich mein Mann das Handgelenk gebrochen und konnte plötzlich vieles nicht mehr alleine machen. Plötzlich erledigte ich die Dinge fröhlich, weil er es ja nicht machen konnte. Und da schoss mir der Gedanke durch den Kopf: Hätte ich früher auch die Wahl gehabt, diese Dinge gut gelaunt zu machen? Was habe ich eigentlich erreicht? Mein Mann hat sich dadurch nicht geändert, ich habe nur mir selbst schlechte Laune gemacht. Die Erkenntnis, dass ich die Freiheit habe, zu bestimmen, wie ich die Dinge beurteile, hat mein Leben verändert.
Nein. Ich habe ja die Möglichkeit, Dinge zur Veränderung zu bringen, zum Beispiel durch Gespräche, aber ich bin dabei nicht mehr wutgesteuert und sehe mich nicht mehr als Opfer. Ich kenne solche Situation auch aus dem Beruf. Immer mal wieder erlebe ich etwas und denke: Das kann doch nicht wahr sein! Dann kann ich eine Opferrolle einnehmen, mich ärgern, hilflos fühlen und mich selbst bemitleiden – oder ich bemühe mich selbstbewusst darum, die Situation zu ändern. Meine Gedanken haben dabei eine große Macht. Ich finde die Methode „The Work“ von Byron Katie sehr hilfreich.
Ich finde es unglaublich befreiend, zu wissen, dass ich für mein eigenes Glück verantwortlich bin. Das könnte man für Egoismus halten, aber ich sehe das wie im Flugzeug mit der Sauerstoffmaske: Erst wenn ich die Maske selbst aufgesetzt habe, bin ich in der Lage, für andere da zu sein. Früher habe ich meinen Mann mit in die Oper geschleppt und ihm dann ein schlechtes Gewissen gemacht und gemeckert, wenn er eingeschlafen ist. Heute gehe ich alleine in die Oper und genieße es.
Ich finde es unglaublich befreiend, zu wissen, dass ich für mein eigenes Glück verantwortlich bin. Das könnte man für Egoismus halten, aber ich sehe das wie im Flugzeug mit der Sauerstoffmaske: Erst wenn ich die Maske selbst aufgesetzt habe, bin ich in der Lage, für andere da zu sein.
Nein! Das ließ sich doch überhaupt nicht vorhersehen. Ich war früher eine – aus meiner heutigen Sicht – langweilige, gesellschaftlich angepasste, harmoniesüchtige Frau. Die aber mit diesem Leben durchaus glücklich war. Im Familienurlaub ging es mir zum Beispiel nur darum, allen anderen Ansprüchen gerecht zu werden, sodass meine Kinder und mein Mann zufrieden waren – wo ich dabei blieb, war mir ganz egal.
Aber jeder sollte es sich wert sein, neu zu starten und 100% Prozent Lebensqualität anzustreben. Das ist für mich der beste Grund für einen Neustart.
Stress mache ich mir manchmal selbst, aber ich lebe tatsächlich angstfrei. Ich mache mich nicht mehr verrückt und gerate nicht mehr in Panik. Die Statistik bestätigt: Wir machen uns zu 95% wegen Dingen verrückt, die gar nicht eintreffen. Wenn meine Angst meine Zukunft positiv beeinflussen würde, wäre ich dabei. Aber ich möchte mir nicht die schöne Gegenwart mit Gedanken an Dinge verderben, die eventuell passieren könnten, aber wahrscheinlich gar nicht passieren werden.
Die Zwanziger werden immer als sorglose Zeit betrachtet, aber tatsächlich sind in diesem Lebensabschnitt viele Menschen von Unsicherheiten geplagt: Was will ich im Leben? Wo geht es hin? Wie orientiere ich mich? In den Dreißigern kommt mehr Stabilität ins Leben, da ist man beruflich vielleicht schon etablierter und hat vielleicht schon eine Familie gegründet – aber diese Zeit ist auch sehr anstrengend, beruflich wie privat. Der Druck und die Anforderungen in diesem Lebensabschnitt sind sehr hoch: sich selbst, dem Partner, dem Job gerecht zu werden. Erst mit höherem Alter wird das Leben und man selbst tatsächlich gelassener. Dann hat man die Freiheit, sein Leben komplett so zu gestalten wie man selbst möchte.
Ja, Einsamkeit ist ein großes Thema. Aber auch für junge Menschen. Ich habe in meinem zweiten Buch viele Tipps dazu gesammelt, wie man seinen Freundeskreis erweitern oder die ersten Schritte aus der Komfortzone heraus machen kann, um neue Kontakte zu knüpfen. Manche Menschen trauen sich gar nicht, mit anderen zu sprechen. Dabei gibt es so viele kleine Möglichkeiten, mit anderen Menschen in Kontakt zu treten. Ob durch Engagement im eigenen Wohnort oder Hundespaziergänge im Park.
Ein großes Thema sind auch alte Verletzungen, die man mit sich herumträgt. Ich bekomme manchmal Nachrichten von Menschen, die mir schreiben: „Greta, du weißt nicht, was in meinem Leben passiert ist. Ich werde nie mehr glücklich sein.“
Es gibt ein ganz einfaches Mittel. Das Zauberwort heißt: verzeihen. Verzeihen wird oft missverstanden als „klein beigeben“. Nach dem Motto: „Er hat es nicht so gemeint.“, „Er hatte selbst eine schlimme Kindheit.“ … Nein, die Handlung bleibt so schlimm wie sie war. Aber ich werde durch das Verzeihen frei.
Ich habe das selbst lange üben müssen: Wann immer negative Gedanken oder Wut in mir aufkamen, habe ich gedacht: Nein, ich verzeihe diesem Menschen. Das ist der Anfang. Dadurch ändert sich im Gefühl erst einmal gar nichts, es geht zunächst darum, diese Gedanken zu stoppen. Ich brauchte Monate, bis ich wirklich verziehen hatte. Irgendwann ist es wie ein gebrochener Arm: Man weiß noch, wie weh es damals tat, aber das spielt im heutigen Leben keine Rolle mehr. Wenn man verziehen hat, kann man durchatmen und fühlt sich frei. Man kann sich von diesen Altlasten befreien, man muss sie nicht ein Leben lang mit sich herumtragen. Man muss lernen, sich auf das Schöne im Leben zu fokussieren. Auch das kann man trainieren.
Ja, aber es geht nicht ohne. Es gehört zum Leben dazu. Es gibt nicht nur schöne Erlebnisse. Auch Trauer muss man annehmen. Es hilft nicht, das unter den Teppich zu kehren. Man sollte alle Gefühle annehmen – und dann schauen, was man daraus machen kann.
Wenn man verziehen hat, kann man durchatmen und fühlt sich frei. Man kann sich von Altlasten befreien, man muss sie nicht ein Leben lang mit sich herumtragen.
Ich sehe nichts in meinem Leben als falsch an. Ich akzeptiere alles so wie es ist. Alle Schleifen, die ich gedreht habe oder Fehler, die ich gemacht habe.
Auf jeden Fall, dass jede*r von uns wertvoll ist. Ich bin so wie ich bin – und das hat einen Sinn. Man sollte sich so annehmen wie man ist und das Leben genießen. Und es ist wichtig, zu erkennen, dass wir selber unser Glück in der Hand haben.
Layout: Kaja Paradiek
3 Kommentare
Greta Silver macht den Anfang, ich bewundere das sehr.
Ich finde es gibt noch viel zu tun für die Stellung älterer Menschen in der Gesellschaft. Das sie frei und glücklich sein können, so wie früher! Stichworte: Attraktivität, Jobs haben können (weiterhin), das tun können worauf sie Lust haben: zB Tanzen im Club, inlinern, Mode, vom 5m Brett springen, das das alles selbstverständlich und normal wird, nicht auf beige reduziert werden etc.
Ob das wohl mal so wird?
In der Hinsicht haben wir ja im Moment wirklich eine starre, altmodische Gesellschaft, die Menschen in Altersschubladen steckt.