Als Journalistin und Buchautorin beschäftigt sich Ingrid Brodnig (36) seit Jahren mit Hasskommentaren und aggressiven Debatten im Internet. Jetzt hat sie ein Buch geschrieben, das uns in der Coronakrise helfen soll: „Einspruch! Verschwörungsmythen und Fake News kontern – in der Familie, im Freundeskreis und online“. Im Interview erklärt uns die Österreicherin wie wir Falschmeldungen selbst erkennen, was wir tun können, wenn Familienmitglieder Corona leugnen und skurrile Verschwörungstheorien verbreiten – und warum Fragen zu stellen in kritischen Gesprächen wichtiger sein kann als das Aufzählen von Fakten.
Ingrid Brodnig: Ich schreibe schon lange über Debatten und Diskussionskultur im Internet, da geht es natürlich auch um Hass und Desinformation. Ich habe Bücher dazu geschrieben und veranstalte Workshops zu dem Thema. In der Coronakrise haben sich Leute an mich gewandt, weil zum Beispiel Familienmitglieder plötzlich an Verschwörungstheorien glaubten und sie nicht wussten, wie sie damit umgehen sollten. Es hat mich selbst fasziniert, wie sehr die Coronakrise ein Dammbruch war: Auch Menschen, die vorher nie mit Verschwörungsmythen zu tun hatten, verbreiteten auf einmal total unseriöse Thesen, die überhaupt nicht schlüssig sind.
Es gibt nicht die eine Wunderwaffe gegen Desinformation und Verschwörungsmythen, aber ich habe ein paar Empfehlungen.
Es gibt nicht die eine Wunderwaffe gegen Desinformation und Verschwörungsmythen, aber ich habe ein paar Empfehlungen. Mir haben die ganzen Mails, Anrufe und Gespräche gezeigt, dass es aktuell ein großes Bedürfnis nach Hilfestellungen gibt, sodass ich die Arbeit an meinem Buch gestartet habe.
Zusätzlich zu dem Material, das ich über Jahre angehäuft habe, habe ich auf mehreren Ebenen recherchiert: Einerseits habe ich mit Angehörigen gesprochen, die oft solche extrem schwierigen Diskussionen führen. Und ich habe Kontakt zu einer ehemaligen Verschwörungsgläubigen aufgenommen, weil es mich interessiert hat, wie man wieder aus der Situation herauskommt, wenn man an solche Mythen wirklich glaubt. Außerdem habe ich mit Wissenschaftler*innen gesprochen, für die es schon länger ein Thema ist, wie sich Fakten verständlich verbreiten lassen. Die Wissenschaft leidet selbst oft darunter, dass bei einem Teil der Bürger*innen belegbare Fakten einfach nicht ankommen.
Eine Verschwörung ist anziehender, weil sie eine große Erzählung liefert und es diesen dunklen Plan im Hintergrund gibt.
Bei Fake News handelt es sich nicht um Verschwörungserzählungen, weil sie nicht andeuten, dass im Hintergrund ein dunkler Plan steht. „Wasser trinken tötet Corona-Viren“: Das ist einfach eine falsche Information. Eine Verschwörung ist anziehender, weil sie eine große Erzählung liefert und es diesen dunklen Plan im Hintergrund gibt. Verschwörungsmythen gehen einer Definition zufolge davon aus, dass nichts aus Zufall geschieht, dass alles miteinander verbunden ist und nichts ist wie es scheint. Dieses Nebulöse ist das offensichtlichste Merkmal von Verschwörungsmythen. Das Problem ist, dass sie einen unglaublichen Sog haben: Man hat das Gefühl, dass man etwas durchblickt, was Andere noch nicht gecheckt haben. Das verschafft ein Gefühl der Bestätigung und fühlt sich oft gut an.
Ja, in jedem Fall. In der Zeit einer weltweiten Krise, die Menschen zum ersten Mal erleben, fühlt es sich an, als hätte man den Boden unter den Füßen verloren. Verschwörungsmythen sind da eine Verteidigungsstrategie: Es fühlt sich gut an, dass ich glaube, die Lage zu durchblicken. Das verschafft mir Halt. Und es ist natürlich angenehme zu glauben, das Virus sei nur eine Erfindung. Dann können wir einfach zum früheren Status Quo zurückgehen und alle Leute treffen – schließlich steckt nur ein dunkler Plan der Elite dahinter.
Zunächst würde ich vorfühlen, wie sehr die Person daran glaubt. Manche Leute finden die Idee interessant und irgendwie verlockend, sind aber noch nicht hundertprozentig überzeugt. Da kann ich mit Logik gegensteuern. Wenn aber zum Beispiel der eigene Vater fest daran glaubt, es sei alles erlogen, dann sollte man die eigenen Ziele anpassen. Dann kann es bereits ein Erfolg sein, wenn er nach einem Gespräch den Hauch eines Zweifels spürt.
Wichtig ist aus meiner Sicht zuerst, das persönliche Gespräch zu suchen. Wenn Verschwörungsmythen beim Familienessen oder in einer größeren WhatsApp-Gruppe verbreitet werden, ist es nicht hilfreich, direkt dort zu widersprechen. Besser wäre es, im persönlichen Gespräch oder in einer privaten Nachricht zu sagen: „Ich bin neulich auch über diese Theorie gestolpert und habe gesehen, dass es eine Falschmeldung ist, hier findest du den Link zu einem Faktencheck.“ So gibt man der Person die Möglichkeit, leichter von der Meinung zurückzutreten.
Es kommt oft vor, dass das nicht fruchtet. Die eine Person behauptet, Bill Gates habe in Kenia Frauen sterilisiert, wir antworten mit einem Faktencheck, der Andere kontert wieder – es schaukelt sich hoch. Es ist unglaublich frustrierend, wenn Fakten einfach abprallen. Dann hilft es, den Spieß umzudrehen. Fragen stellen statt Fakten liefern: Woher hast du das, warum vertraust du ausgerechnet dieser Quelle? Wie fühlst du dich dabei? So findet man auch heraus, warum jemand das so verlockend findet. Ich kann mit Fragen auf einen Erkenntnisgewinn hinarbeiten, auf die Unstimmigkeiten hinweisen, gemeinsam die Logikfehler inspizieren. Wer fragt, der lenkt ein Gespräch – Fragen sind als rhetorisches Element unheimlich machtvoll.
Gerade im privaten Umfeld ist es unglaublich irritierend, wenn eine Person, die man schätzt oder liebt, plötzlich von Verschwörungstheorien erzählt. Da ist es nicht leicht, cool zu bleiben.
Gerade im privaten Umfeld ist es unglaublich irritierend, wenn eine Person, die man schätzt oder liebt, plötzlich Verschwörungstheorien erzählt. Da ist es nicht leicht, cool zu bleiben. Man muss einen Spagat schaffen: In der Sache widersprechen, aber der Person weiterhin Wertschätzung entgegenbringen. Jeder Mensch möchte sich als integer wahrnehmen und eine Konfrontation mit unliebsamen Fakten kann sich wie ein Angriff auf die eigene Persönlichkeit anfühlen. Deshalb sollte man Abstand von Häme und Beleidigungen nehmen. Wenn ich mein Gegenüber als „Covidiot“ oder „Aluhutträger“ bezeichne, ist das kontraproduktiv. Das klingt jetzt logisch, ist aber in der Hitze des Gefechtes nicht immer leicht zu befolgen. Es ist eine Kunst, zu merken, wenn man selbst emotional wird, und dann gegenzusteuern.
Es hilft sehr, wenn man Wertschätzung zeigt. Aber natürlich ist es wichtig, kritische Punkte klar zu benennen. Wenn jemand zum Beispiel antisemitische Verschwörungsmythen äußert, sollte ich deutlich darauf hinweisen und sagen: „Ich schätze dich sehr, aber hier muss ich klar widersprechen.“
Es ist wichtig, sich nicht verzetteln zu lassen. Es kann passieren, dass man wie die Maus vor der Schlange sitzt und nur über das Falsche redet. Ich sage zum Beispiel meiner Tante immer wieder, dass Bill Gates uns durch Impfungen keine Mikrochips implantieren will – und am Ende habe ich nur gekontert und nicht betont, was mir selbst wichtig ist. Zum Beispiel wollte ich eigentlich mit ihr darüber reden, wie wichtig Impfungen bei der Bekämpfung von Krankheiten sind. Wenn ich mich auf das Gespräch vorbereiten kann, sollte ich mich fragen: Was will ich unbedingt sagen und was sind die wichtigen Botschaften, die ich platzieren will?
Wenn Leute eine Information immer wieder hören, halten sie sie eher für wahr. Das gilt bei Falschmeldungen, aber auch bei der Richtigstellung.
Das geht natürlich nicht immer. Aber wenn ich weiß, dass ich mit bestimmten Personen immer über einzelne Themen diskutiere, kann ich mir ein Best-of der eigenen Argumente überlegen. Es müssen nicht immer neue Informationen sein. Wiederholung ist ein wichtiges Instrument und Beharrlichkeit ist wichtig. Wenn Leute eine Information immer wieder hören, halten sie sie eher für wahr. Das gilt bei Falschmeldungen, aber auch bei der Richtigstellung.
Bei der wertebasierten Kommunikation sollte man durchaus auf Fakten pochen, aber die eigenen Argumente stärker auf die Werte der anderen Person ausrichten. Kann ich es so formulieren, dass es ein Stück weit besser zu den Werten und auch Ängsten der anderen Person passt? Kann ich eine Angst, die im Hintergrund steht, ernst nehmen und gleichzeitig der Verschwörungserzählung, die darauf aufbaut, widersprechen? Am Beispiel der Coronakrise leiden viele Menschen stark unter den Kontaktbeschränkungen und glauben an Falschmeldungen, um sich zu beruhigen, um keine Maske tragen zu müssen und um weiterhin Menschen zu treffen. Wenn ich das Unbehagen anspreche und ernst nehme, kann ich dann auch in der Sache widersprechen.
Es kann sein, dass man Fragen stellt und nur beschimpft wird. Dann führt es zur Eskalation. Natürlich ist niemand verpflichtet, diese Diskussionen zu führen. Ein Alarmsignal kann sein, dass es immer lauter wird. Wenn man trotzdem dranbleiben möchte, um die Person nicht zu verlieren, würde ich professionelle Beratungseinrichtungen empfehlen. Es gibt zum Beispiel „Zebra“ in Baden-Württemberg oder auch Sektenstellen, die Angehörige von Verschwörungsgläubigen beraten. Es ist ganz wichtig zu wissen, dass man damit nicht alleine bleiben muss. Es kann vor allem in der Familie unglaublich belastend sein und da gibt es Leute, die einem den Rücken stärken.
Man kann das jederzeit tun, wenn man bei der anderen Person nicht weiterkommt, aber trotzdem dranbleiben möchte. Ein klares Alarmsignal ist es, wenn Leute anfangen, sich oder Andere zu gefährden. Ich habe für das Buch mit einer jungen Frau geredet, deren Vater in der Coronakrise begonnen hat, Bleichmittel zu trinken. Er war schon lange verschwörungsgläubig und es gibt seit Jahren Falschmeldungen, dass dieses Bleichmittel gegen verschiedene Erkrankungen wie Corona wirken kann. Dabei ist das medizinisch total falsch und gefährlich, weil es zum Beispiel die eigene Speiseröhre verätzen kann.
Erst einmal kann man auf die eigene Emotionalität achten. Wenn etwas so brisant ist, dass man denkt, man will es sofort weitererzählen – dann sollte man skeptisch sein. Viele Verschwörungserzählungen funktionieren, weil sie so spannend klingen. Oder wenn ich mich dadurch bestätigt fühle oder denke, die Meldung klingt genauso, dass meine Tante sie gerne glauben würde: Auch dann sollte man genau hinschauen. Viele Falschmeldungen sind von Wunschdenken geprägt.
Ein ganz simpler Trick, der oft funktioniert: Die Behauptung googeln und „Faktencheck“ dazu schreiben. Zum Beispiel: „Bill Gates Kenia Frauen sterilisiert Faktencheck“. Gerade, wenn Meldungen schon weit verbreitet wurden, gibt es mit Sicherheit einen Faktencheck. Bevor ich einen Verschwörungsgläubigen damit konfrontiere, sollte ich die Quelle aber gut auswählen. Ist mein Onkel eher konservativ und ich finde einen Faktencheck bei der FAZ und bei der TAZ, dann sollte ich die FAZ nehmen. Oder die Lokalzeitung, von der ich weiß, dass er sie immer liest. Studien zeigen, dass das Vertrauen in die Quelle manchmal wichtiger ist als die Expertise. Gerade Verschwörungsgläubige haben oft ein kritisches Verhältnis zu vielen Medien, da sollte ich gut überlegen: Finde ich einen Absender, dem derjenige vielleicht noch zuhört?
Das ist immer sinnvoll, aber man sollte auf die eigene Zeit achten und überlegen, wo man etwas bewirken kann und will. Wenn ich Themen habe, die mir wichtig sind – zum Beispiel Falschmeldungen übers Impfen oder über Feminismus – kann ich mir vornehmen, pro Woche eine Stunde dafür aufzubringen. Die nächste Frage ist, wo ich die Chance auf einen Effekt habe. Es gibt immer wieder Einzelne, die in Gruppen von Verschwörungsgläubigen gehen und dort argumentieren, aber da verpufft es. Da bestärken sich alle anderen gegenseitig und man selbst ist selbst Fremdkörper. Deshalb empfehle ich, in eher heterogene Gruppen zu gehen, zum Beispiel in Kommentarspalten von größeren Medien. Da gibt es Menschen, die an Falschmeldungen glauben, andere sind unsicher und andere sehen es so wie ich.
Argumente zählen am meisten, wenn jemand unsicher ist. Deshalb hat man in so einem Mischmasch aus Meinungen eine gute Chance. Es geht auch nicht nur um Personen, die falsche Meldungen verbreiten, sondern auch um die, die mitlesen. Es gibt immer einen Kollateralschaden, im positiven und im negativen Sinne. Und wie im persönlichen Gespräch zählt auch hier die Wiederholung. Wenn ich sehe, jemand hat schon einen Faktencheck gepostet, sollte ich es unbedingt noch einmal tun – das erhöht die Wirkung.
Fotos: Gianmaria Gava