Abhängigkeit statt Empowerment: Wie Multi-Level-Marketing gezielt Frauen* ausnutzt
17. Februar 2025
geschrieben von Gastautor*in
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In sozialen Medien kursieren verlockende Versprechen: zum Beispiel schneller Gewichtsverlust ohne Hungern oder Kalorienzählen. Doch was steckt hinter diesen Angeboten? femtastics Autorin Ulrike Frosch berichtet von ihren persönlichen Erfahrungen mit einem vermeintlichen Detox-Programm und deckt auf, wie Multi-Level-Marketing-Systeme gezielt Frauen* ansprechen, um finanzielle und emotionale Abhängigkeiten zu schaffen. Sie hinterfragt die Wirksamkeit der beworbenen Produkte und zeigt, wie solche Strukturen patriarchale Muster reproduzieren, anstatt echtes Empowerment zu fördern. Ein kritischer Blick auf die Mechanismen, die hinter den glänzenden Fassaden lauern.
Anfangs motivierte mich der Austausch, doch bald merkte ich, dass es in dieser Community nicht nur um das gemeinsame Entgiften ging.
Es begann mit einem Instagram-Reel
„Ich habe 8 Kilo in einem Monat abgenommen – trotz langsamen Stoffwechsels – kein Hungern, kein Kalorienzählen, natürliche Lebensmittel. Wenn Du mehr dazu wissen möchtest, dann kommentiere mit ‚INFO‘.“ In der Hoffnung, ein paar Kilos zu verlieren, hinterließ ich einen Kommentar und kam so mit Katrin in Kontakt. Nach einer kurzen Beratung zu ihrem exklusiven viermonatigen Detox-Programm bestellte ich über ihren Link einige Produkte eines Herstellers für Nahrungsergänzungsmittel und wurde Teil einer WhatsApp-Gruppe mit etwa 40 Frauen*. Anfangs motivierte mich der Austausch, doch bald merkte ich, dass es in dieser Community nicht nur um das gemeinsame Entgiften ging und ich begann das Programm, die angepriesenen Produkte sowie deren Vermarktungsstrategie zu hinterfragen.
Was ist Multi-Level-Marketing (MLM)?
Kritische Beiträge zu dem Hersteller für Nahrungsergänzungsmittel sind nicht neu, und hätte ich mich im Vorfeld besser informiert, hätte ich definitiv die Finger von gelassen. So finden sich einige Erfahrungsberichte, Reportagen und Zeitungsartikel, die im Wesentlichen die Wirksamkeit und Unbedenklichkeit der Produkte anzweifeln und sich kritisch mit der Vertriebsstrategie auseinandersetzen.
Denn der Hersteller arbeitet nach dem Prinzip des Multilevel-Marketings (die Branche selbst bezeichnet es lieber als Netzwerk-Marketing), einer Vertriebsform, bei der Produkte nicht über den Einzelhandel, sondern durch unabhängige Vertriebspartner*innen vermittelt werden. Das geschieht mittlerweile vorwiegend via Social Media, da hier gezielt persönlich wirkende Botschaften und emotionale Erfolgsgeschichten platziert werden können, um dann wie auch in meinem Fall Konzepte und Produkte anzupreisen.
Multi-Level-Marketing unterscheidet sich zudem von herkömmlichen Geschäftsmodellen, indem Vertriebspartner*innen nicht nur durch Produktverkäufe Einnahmen erzielen, sondern zusätzlich noch neue Vertriebspartner*innen gewinnen. Über die Verkäufe jedes neuen Teammitglieds erhalten immer auch die übergeordneten Partner*innen Provisionen. Dieses System führt zwangsläufig zu einer pyramidenartigen Struktur, in der nur eine sehr kleine Gruppe an der Spitze signifikante Gewinne erzielt, während die breite Masse an der Basis mit Versprechungen und nicht selten sozialem Druck und emotionaler Manipulation im System gehalten wird.
Dieses System führt zwangsläufig zu einer pyramidenartigen Struktur, in der nur eine sehr kleine Gruppe an der Spitze signifikante Gewinne erzielt.
Community und Produkte
Neben der Detox-Gruppe wurde ich bald in eine zweite Gruppe eingeladen, die sich um das „Business“ drehte. Hier wurden zusätzlich Zoom-Calls, Großevents und Info-Partys für neue Detox-Botschafter*innen beworben. Ich entdeckte, dass Katrin mehrere Social-Media-Profile hatte. Ein weiteres zeigte vorrangig ihre beruflichen Erfolge und ihren Lifestyle, finanziert durch „ihr Business“. Sie pries an, dass sie zwischen 10.000 bis 20.000 Euro im Monat verdiene und endlich die nötige Flexibilität für Familie und Reisen hätte. Zahlreiche Frauen* mit jeweils eigenen Netzwerken folgten ihr, warben für das gleiche Detox-Programm und posteten täglich ähnliche Inhalte. Das Ganze wirkte auf mich wie eine riesige Drückerkolonne und mir wurde klar, dass es hier neben der Vermarktung einzelner Produkte vorrangig um die Vergrößerung eines Netzwerks ging.
Insofern überraschte es mich nicht, dass ich wenig Aussagekräftiges zu den Produkten des Herstellers fand. Wie auch bei vielen anderen Anbieter*innen von Nahrungsergänzungsmitteln sind unabhängige, qualitativ hochwertige Studien zur tatsächlichen Wirksamkeit rar. Verbraucherschutzorganisationen bemängeln zudem die fehlende Transparenz bezüglich der Inhaltsstoffe und Herstellung. Die hohen Preise der Produkte werden zwar vom Unternehmen mit der schonenden Verarbeitung und ihrer Qualität begründet, spiegeln jedoch im Wesentlichen die Vertriebsstruktur wider: Denn ein Teil des Geldes fließt in die Provisionszahlungen des MLM-Systems. Zahlreiche Aussagen von Expert*innen machen darüber hinaus deutlich, dass eine ausgewogene Ernährung bei gesunden Menschen die Einnahme zusätzlicher Präparate völlig überflüssig macht. Auch in meiner Erfahrung spielte die begleitende Ernährungsumstellung – Verzicht auf Zucker und tierische Produkte – eine größere Rolle als die Produkte selbst.
Kurz vor Ende des Programms fragte mich Katrin, ob ich weiterhin mit ihr an meinen Zielen arbeiten möchte. Nach einigen kritischen Nachfragen meinerseits und der Ablehnung ihres Angebots wurde ich schließlich noch vor Programmende von ihr blockiert und aus allen Gruppen entfernt.
Warum wir Multi-Level-Marketing kritisch betrachten müssen
Für mich war das Kapitel damit zu Ende, aber was mich im Nachhinein in der Auseinandersetzung mit Katrin noch sehr beschäftigt und wütend gemacht hat: Diese Firmen und ihre Vertriebspartner*innen nutzen in ihrer Kommunikation oft Werte wie Empowerment, finanzielle Unabhängigkeit und Flexibilität, um gezielt Frauen* anzusprechen, die nach beruflicher Selbstverwirklichung und einer besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf suchen.
Dabei präsentieren sich Personen wie Katrin als Vorbilder und werben für ein erfolgreiches Leben voller Gesundheit, Freiheit und finanzieller Unabhängigkeit. Die Erfahrungsberichte von Betroffenen, Analysen von Verbraucherschutzorganisationen und unabhängige Studien legen jedoch ein völlig anderes Bild nahe. Nach Schätzungen des Consumer Awareness Institutes verdienen bis zu 99 % der Teilnehmer*innen in MLM-Systemen insgesamt weniger Geld, als sie für Produkte, Schulungen und Marketingmaterialien ausgeben und sie riskieren schlimmstenfalls noch eine Verschuldung, wenn ihre Ausgangssituation bereits prekär ist.
Durch den Druck, das soziale Umfeld einzubinden, drohen Konflikte und Isolation.
Multi-Level-Marketing setzt zudem gezielt auf persönliche Kontakte. Vertriebspartner*innenwerden angehalten,Familie, Freund*innen und Bekannte anzusprechen, um Produkte zu verkaufen oder neue Partner*innen zu rekrutieren. Durch den Druck, das soziale Umfeld einzubinden, drohen Konflikte und Isolation. Wer dann sein gesamtes soziales Umfeld abgegrast hat und schließlich nicht mehr genug verkauft oder rekrutiert, ist selbst schuld, da nicht engagiert genug, was bei den Betroffenen wiederum zur Verstärkung von Selbstzweifeln führen kann.
Dabei kann es in diesem System schlichtweg nicht jede*r schaffen. Das ist schon rechnerisch nicht möglich und wird deutlich, wenn man den prozentualen Umsatz eines Unternehmens, der für Provisionen vorgesehen ist, durch die Anzahl der Vertriebspartner*innen teilt. Im Fall des Herstellers für Nahrungsergänzungsmittel mit ca. 500.000.000 USD jährlichem Gesamtumsatz und ca. 200.000 Vertriebspartner*innen wären das nicht mal 900 USD pro Vertriebspartner*in im Jahr, selbst wenn schon großzügige 35% als Provisionsanteil zu Grunde gelegt werden.
MLM-Systeme spielen gezielt mit den Hoffnungen von Frauen* und verkaufen vermeintliche Lösungen für ihre Probleme.
Abhängigkeit statt Empowerment
MLM-Systeme spielen gezielt mit den Hoffnungen von Frauen* und verkaufen vermeintliche Lösungen für ihre Probleme. Doch anstatt Unabhängigkeit zu schaffen, führen sie noch stärker in die Abhängigkeit – finanziell, sozial und emotional. Anstatt Solidarität und Chancengleichheit zu fördern, befeuern MLM-Systeme Ungleichheiten und benutzen den Großteil ihrer Teilnehmer*innen als billige Marketingmaschinen, während nur eine sehr kleine Gruppe an der Spitze profitiert.
Wenn diese Unternehmen und ihre Vertriebsgefolgschaft darüber hinaus feministische Sprache kapern, um ihre Geschäftspraktiken zu legitimieren und weitere Personen ins System zu holen, ist das weder gesellschaftlich wertvoll noch ethisch vertretbar. Viele Betroffene* schämen sich zudem, öffentlich über ihre negativen Erfahrungen zu sprechen – doch genau diese Scham hilft den Unternehmen, ihre ausbeuterischen Strukturen aufrechtzuerhalten. Es ist an der Zeit, solche Mechanismen offen zu thematisieren. In einer (Arbeits-)Welt, die echte Empowerment-Alternativen braucht, ist Multi-Level-Marketing ein wahrer Rückschritt!
Text: Ulrike Frosch