Wir schreiben das Jahr 2021 und Menschen, die ihr Geschlecht umwandeln (oder besser gesagt: angleichen) lassen, gelten in großen Teilen der Gesellschaft und in den Medien leider immer noch als Paradiesvögel. Als Ricardo Föger (34) zur Welt kommt, heißt er Anja. Er wird als Mädchen geboren, spürt aber schon im Kindergarten, dass er im Inneren ein Junge ist. Jahrelang versteckt er sein Geheimnis, bis er sein Coming-Out wagt und sich langen Operationen zur Geschlechtsangleichung unterzieht. Jetzt hat Ricardo ein Buch geschrieben: „Der Mann, der einmal ein Mädchen war“. Im Interview spricht der Österreicher über seine früheren Ängste, über Selbstmordgedanken und mutige Entscheidungen – und darüber, was wir alle für mehr Offenheit in der Gesellschaft tun können.
Ich war noch nie ein Mädchen.
Ricardo Föger: Das stimmt. Ich war noch nie ein Mädchen – aber der Titel sagt trotzdem alles. Wir wollten ihn so formulieren, dass Menschen, die mit dem Thema noch nichts zu tun hatten, sofort verstehen, worum es geht. Wir haben sehr lange gegrübelt und ich finde, das Ergebnis ist gut gelungen, weil jede*r sich etwas darunter vorstellen kann. Manchmal werden im Zusammenhang mit dem Buch auch Wörter wie Transgender verwendet, mit denen ich gar nichts anfangen kann.
Die Bezeichnung steckt Menschen wieder in Schubladen. Ich bin ein Mann und ich war schon immer ein Mann. Aber Transgender ist ein geläufiges Wort, deshalb verstehen es viele Menschen.
Im Kindergarten, als ich das erste Mal eng mit anderen Kindern in Kontakt kam. Da wird man herausgerissen aus dem geschützten und familiären Umfeld, wo alles unbeschwert ist. Man fängt an, sich zu vergleichen und wird mit Fragen konfrontiert: Ist das normal, dass Mädchen mit Autos spielen? Spielen Mädchen nicht eher mit Puppen?
Ich wusste sehr genau, dass ich all das als Bursche mache. Ich habe die Zeit nicht als Anja erlebt. Ich bin abends ins Bett gegangen und habe mir gewünscht, ich würde morgen mit meinem Penis aufwachen. In Selbstgesprächen habe ich immer den Namen Ricardo verwendet, da war nie Anja.
Ich wollte alles dafür tun, dass ich dazugehöre, dass ich nicht von der Gesellschaft ausgestoßen werde.
Er war immer schon in mir drin, ich hatte das Gefühl, dass Ricardo zu mir passt. Ich hatte als Kind schon immer einen Hang zu Italien, war jedes Jahr mit meinen Eltern dort am Meer. Erst im Erwachsenenalter habe ich den Namen gegoogelt und festgestellt, dass Ricardo „der Starke“, „der Mächtige“, „der Reiche“ bedeutet – das ist mega passend. Ich habe ihn nur nicht mit doppeltem c auf Italienisch geschrieben, sondern in der spanischen Variante. Das war eine pragmatische Entscheidung, weil es so bei Unterschriften einfacher ist. (lacht)
Man sehnt sich als Kind nach Liebe und Akzeptanz, man will dazugehören. Ich wollte alles dafür tun, dass ich dazugehöre, dass ich nicht von der Gesellschaft ausgestoßen werde. Also habe ich alles dafür getan, den Schein aufrecht zu erhalten, ich habe mich total verloren. Irgendwann kam der Zeitpunkt, wo die Seele mehr oder weniger den Körper verlassen hat, um zu überleben. Das hatte auch körperliche Folgen: Mit 20 Jahren hatte ich eine Lungenembolie, da hat sich in meinen Augen körperlich die Folge davon gezeigt, dass ich so sehr gegen mich selbst und meine Natur angekämpft habe.
Jede*r ist gut so, wie er oder sie ist. Das gehört schon den Kleinsten vermittelt, weil dann – brutal formuliert – die Gesellschaft ausstirbt, die dieses Bewusstsein nicht hat.
Es hat sich einiges in die positive Richtung entwickelt, aber ich glaube nicht, dass es wirklich eine größere Offenheit gibt. Meiner Meinung nach müsste man die Ursache an der Wurzel packen und vernichten. Wir brauchen gute Aufklärungsarbeit und müssen Kindern schon beibringen, dass es egal ist, wer wie ist, dass alles gut ist. Dabei geht es nicht nur um Transidentität, sondern auch um andere Religionen, um andere Interessen, um andere Hautfarben. Jede*r ist gut so, wie er oder sie ist. Das gehört schon den Kleinsten vermittelt, weil dann – brutal formuliert – die Gesellschaft ausstirbt, die dieses Bewusstsein nicht hat. Natürlich wird es immer Einzelne geben, die daran festhalten und Ängste behalten, aber so könnte ein Umdenken passieren.
Das Schwierigste ist, die eigenen Ängste als Erwachsene zu überwinden. Die Ängste, dieses Thema auch anzusprechen. Oft liegt das an der Unsicherheit, wie man damit umgehen soll. Meine Frau hat eine neunjährige Tochter. Bevor ich vor etwa zwei Jahren mit meiner Geschichte an die Öffentlichkeit gegangen bin und der mediale Rummel begonnen hat, haben wir beschlossen, dass wir ihr alles erklären müssen, bevor sie es von jemand anderem erfährt. Das war ein Gespräch über zwei, drei Sätze. Sie hat gesagt: „Hmm, okay, cool. Aber wie funktioniert das?“. Wir haben es ihr dann ganz kindgerecht erklärt.
Wir vermitteln ihr grundsätzlich, dass man alles im Leben erreichen kann, was man sich wünscht, wenn man ganz fest daran glaubt. Also haben wir ihr erklärt, dass es bei mir so war, dass ich den großen Wunsch hatte, auch äußerlich ein Mann zu werden, und dass ich dann einen Arzt gefunden habe, der mir den Wunsch erfüllt hat. Dann war alles klar für sie. Auch bei den anderen Kindern in ihrer Klasse war es kein Problem – viel eher besteht Angst bei den Erwachsenen. Vermutlich, weil mangelnde Aufklärung stattfindet.
Leider bin ich auf viel Ablehnung gestoßen, als ich versucht habe, hier in Tirol und Österreich an Schulen zu referieren und meine Lebensgeschichte zu erzählen.
Ich finde, man sollte von klein auf den Kindern oder Pädagog*innen vermitteln, wie man mit dem Thema umgeht, zum Beispiel in Kindergruppen. Wenn man dort ansetzt, kann man etwas erreichen. Diese Generation besteht aus den nächsten Erwachsenen, die das weiter vermitteln können. Irgendwann gibt es dann nur noch ganz wenig Intoleranz in der Welt. Leider bin ich auf viel Ablehnung gestoßen, als ich versucht habe, hier in Tirol und Österreich an Schulen zu referieren und meine Lebensgeschichte zu erzählen.
Es gibt einige Biologie-Lehrer*innen, die mich persönlich kennen, die haben das Thema Transidentität in der dritten oder vierten Klasse aufgegriffen und wollten mich gerne einladen – ich sollte dort allgemein über das Thema Vielfalt sprechen. Doch die Schulleitungen sagten teilweise, das Thema habe an ihrer Schule keinen Platz. Das macht mich natürlich traurig, ich bin schließlich auch mal an genau so eine Schule gegangen.
Das Fass hat sich über Jahre hinweg gefüllt, es zog sich ja vom Kindergartenalter bis zum 25. Geburtstag etwa. Je älter man wird, desto mehr prägen sich die äußeren Geschlechtsmerkmale aus, da haben Klassenkamerad*innen die ersten Freunde oder Freundinnen, haben erste Küsse ausgetauscht. Ich habe mich auch nach Liebe gesehnt, aber ich konnte mir nicht vorstellen, als Frau eine Frau zu lieben. Ich habe mich in Frauen verliebt – aber als Mann. Die Sehnsucht nach dem Geliebtwerden war so groß, dass ich mir eine zweite Identität aufgebaut habe oder besser gesagt: Ich habe meine wahre Identität ausgelebt und übers Internet als Mann Frauen kennengelernt. Wir haben uns getroffen und ich habe einige Frauen wirklich geliebt, ich hätte mir mit jeder Einzelnen eine Zukunft vorstellen können.
Nein, ich habe alles getan, um die Fassade aufrecht zu erhalten. Ich habe mir mit Tapes die Brust abgebunden, habe im Sommer bei 35 Grad weite Pullis getragen, um alles zu kaschieren, was mich verraten könnte. So ging es bis zu einem gewissen Grad immer gut. Bis mich dann eine Frau aufgedeckt hat. Sie hat meine Eltern kontaktiert und gefragt: Was stimmt mit eurem Kind nicht?
Das weiß ich bis heute nicht. Aber hier in Tirol kennt jede*r jede*n über fünf Ecken, da ist es nicht so schwierig. Das war für mich der Schlüsselmoment, in dem ich gesagt habe: „Ich will diese Fragen nicht beantworten, ich schaffe das alles nicht mehr, ich bin am Ende. Ich will hier raus, ich will mir das Leben nehmen.“. Aber irgendwo in mir war wohl noch ein letzter Funke Hoffnung, ein Rest Vertrauen. Also habe ich beschlossen, dass ich jetzt meinen Weg gehe – egal, welche Hindernisse und Widerstände auf mich zukommen. So hatte ich mit 25 mein Coming-Out.
Ich habe das einzig Richtige gemacht und meine Ängste hintenangestellt. Da habe ich gemerkt: Mir passiert nichts. Und ich habe gelernt, je präsenter man in die Öffentlichkeit geht, je offener man über das Thema spricht, desto weniger wird man zur Zielscheibe.
Eigentlich haben alle gesagt: „Das haben wir immer schon gewusst.“ Persönlich habe ich ab dem Zeitpunkt meines Outings nie mit irgendwelchem Mobbing zu tun gehabt, aber man muss so realistisch sein, dass hintenrum immer geredet wird. Aber das lasse ich nicht mehr an mich heran, ich stehe mittlerweile so fest verwurzelt auf der Welt, dass mich nichts mehr umhauen kann.
Ich habe immer gewusst, dass ich eine tolle Familie habe und war sehr froh, dass ich nicht die Ablehnung gespürt habe, vor der ich all die Jahre Angst hatte. Man liest ja auch immer wieder, was Menschen in solchen Situationen teilweise mitmachen müssen. Als ich nach dem Coming-Out aufs erste Dorffest gegangen bin, da habe ich mich natürlich schon gefragt, was bekomme ich für Blicke zugeworfen? Aber ich habe das einzig Richtige gemacht und meine Ängste hintenangestellt. Da habe ich gemerkt: Mir passiert nichts. Und ich habe gelernt, je präsenter man in die Öffentlichkeit geht, je offener man über das Thema spricht, desto weniger wird man zur Zielscheibe.
Ich möchte damit einfach viele Menschen erreichen und anstupsen. Ihnen ins Bewusstsein holen, dass es mehr gibt als die Einteilung in Mann und Frau. Ich mache das nicht, weil ich die Bühne brauche oder mir das Rampenlicht wünsche, ich möchte einfach aufklären, dass all das ganz normal ist. Dass wir keine Hybriden oder Außerirdischen sind. Wir sind ganz normale Menschen wie alle anderen auch. Das stört mich übrigens bei all den Regenbogenparaden, die es gerade gibt: Oft wird alles so überzogen inszeniert, dass es kontraproduktiv ist. Man erschafft in meinen Augen dadurch nicht das Gefühl von Normalität, sondern irritiert sicher viele Menschen, sodass es in Ablehnung umschlagen kann.
Es ist keine Umwandlung, sondern eine Angleichung: Ich gleiche mein äußeres Geschlecht meinem Inneren, meinem Gehirn an.
Ganz genau, es ist keine Umwandlung, sondern eine Angleichung: Ich gleiche mein äußeres Geschlecht meinem Inneren, meinem Gehirn an. Das wäre richtig formuliert, aber ich weiß auch, dass der Begriff Geschlechtsumwandlung nicht böse gemeint ist – den meisten Menschen ist es nicht bewusst, weil sie sich nicht damit auseinandersetzen. Eine weitere Formulierung ist: „Gefangen im falschen Körper“. Das ist überhaupt nicht passend, weil ich meinen Körper liebe. Mein Körper ist super, ich bin nur mit meinen Geschlechtsmerkmalen nicht klargekommen.
Ich führe ein völlig normales Leben mit einem ganz normalen Alltag. Das ganze Programm mit Hochzeit, Haus bauen, Baum pflanzen. Mit Ehefrau und Stieftochter, mit Diskussionen nach dem Aufstehen oder beim Ins-Bett-Bringen. Einfach völlig normal. (lacht)
Ja, eine sehr große. Ich sehe sie aber mittlerweile aus einer anderen Perspektive. Ich bin dieser Anja von früher sehr dankbar und bin mega stolz auf sie. Wenn sie das alles nicht erlebt hätte, wäre ich jetzt nicht der Ricardo, der ich heute bin. Ich schenke dieser Person, dieser Anja ganz viel Dankbarkeit. Ich denke fast täglich an die Zeit zurück und ich habe so viel lernen können. Also blende ich meine Geschichte nicht aus, sondern integriere sie.
Teaserfoto: Maria Kirchner, Hochzeitsfoto: Rudolf Aichinger, alle anderen: privat
4 Kommentare
Ich verstehe nicht, warum ihr direkt im ersten Satz „Geschlecht umwandeln“ schreibt, wenn Ricardo doch im Interview selbst erklärt, dass „angleichen“ der korrekte Begriff ist. Könntet ihr das noch ändern?
Sehe ich ganz genauso!
Liebe Sarah, liebe Mareike,
vielen Dank für eure Kommentare. Wir haben den Ausdruck nur einmal verwendet, damit „Menschen, die mit dem Thema noch nichts zu tun hatten, sofort verstehen, worum es geht.“, wie Ricardo selbst sagt. Im Interview und auch in der Headline wird dann hoffentlich deutlich, welche Begriffe passender sind.
Hallo Ricardo!Wir haben mal kurz zusammen gearbeitet und es freut mich sehr, dass du dich endlich selbst gefunden hast!!!So wie du damals als Anja wirst, warst du unglücklich und nichts hat dir Freude gemacht…..Respekt für deinen Schritt und recht hast gehabt!!Viele würden sich das nicht trauen!!!LG Karin