Seenotrettung auf dem Mittelmeer: Eine Schnellbootfahrerin erzählt von ihren Einsätzen mit „SOS Humanity“

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30. August 2024

Tausende Menschen sterben jedes Jahr bei dem Versuch, über das Mittelmeer zu flüchten – vor Hunger, Armut und Bedrohung. Männer*, Frauen* und Kinder steigen in unsichere Boote mit der Hoffnung, irgendwie anzukommen – auf der anderen Seite des Mittelmeers, auf der sie sich ein besseres, sichereres Leben erhoffen. Um diesen Menschen zu helfen und sie vor dem Ertrinken zu retten, sind zahlreiche NGOs für die Seenotrettung im Einsatz. Eine davon ist „SOS Humanity“.

Wir sprechen mit Olivia, einer jungen Frau, die bereits bei einigen Rettungseinsätzen auf dem Mittelmeer dabei war – als Fahrerin eines der Schnellboote, die Geflüchtete von den seeuntüchtigen Booten rettet und zum Schiff „Humanity 1“ transportiert, um sie dann in einen sicheren Hafen zu bringen.

femtastics: Olivia, wo bist du gerade, während ich hier in unserem Büro sitze?

Olivia: Ich bin gerade in meiner Kabine, die ich mit einem anderen Crew-Mitglied teile. Wir sind heute Morgen mit der „Humanity 1“ durch die Straße von Messina gefahren. Jetzt sind wir auf dem Meer auf der Ostseite von Sizilien.

Am Wochenende seid ihr in den Hafen gefahren und also schon wieder unterwegs?

Genau. Wir bleiben immer so kurz wie möglich in einem Hafen, um schnell wieder in den Rettungseinsatz fahren können und um die Liegegebühren im Hafen zu vermeiden.

Olivia beim Training für die Seetnotrettung. Foto: Judith Büthe/ SOS Humanity

Seit wann bist du mit der „Humanity 1“ unterwegs für die Seenotrettung von Menschen im Mittelmeer? Was hast du bislang erlebt?

Ich bin seit dem 22. Juli an Bord und werde am 27. August von Bord gehen. Bei unseren Einsätzen gibt es verschiedene Phasen. Am Anfang kommt die Crew zusammen, um sich kennenzulernen, und wir haben verschiedene theoretische und praktische Trainings. In der Regel arbeitet die Crew in der jeweiligen Zusammensetzung zum ersten Mal zusammen.

Dann fahren wir raus und sind auf See. Meist haben wir zwei bis vier Tage Transit auf See, um in unser Einsatzgebiet zu kommen, also das Gebiet, in dem wir Boote in Seenot vermuten. Das ist sozusagen die Ruhe vor dem Sturm. Wir können uns aber nicht ausruhen, sondern haben weitere praktische Trainings, tagsüber und nachts, weil wir die Schlauchboote im Hafen nicht zu Wasser lassen können, um mit ihnen zu trainieren.

Irgendwann sind wir in unserem Einsatzgebiet, wo wir Seenotfälle vermuten oder Hinweise bekommen haben, dass dort tatsächlich Boote sind. Oder wir erhalten Notrufe. Manchmal wissen wir, wo sich das betreffende Boot befindet, manchmal müssen wir suchen. Sobald wir Menschen an Bord haben, wird uns ein sicherer Hafen zugewiesen, den wir anfahren – und der ist hoffentlich nicht allzu weit entfernt im Norden Italiens.

Wenn du es so vereinfacht beschreibst, klingt es alles ganz easy: Die Menschen kommen an Bord, ihr fahrt in den Hafen, sie gehen von Bord und ihr fahrt wieder los. Aber so einfach ist es sicher nicht. Welche Rolle genau hast du auf der „Humanity 1“?

Ich fahre das Transportmittel, aber natürlich gehört dazu viel mehr. Auf unserem größeren Schnellboot sind insgesamt fünf Menschen aus unserer Crew. Bei einer Rettung lassen wir die Schlauchboote zu Wasser und nehmen Rettungswesten mit an Bord. Dann fahren wir zum Boot in Seenot. Dort ist der größte Job, die „Crowd Control“ hinzubekommen, also diese Menschenmenge, die auf dem Boot sitzt, halbwegs unter Kontrolle zu kriegen oder zu halten.

Wenn zu viel Bewegung im Boot ist, ist das Risiko größer, dass es kentert. Das wollen wir unter allen Umständen vermeiden, weil dann Menschen im Wasser sind, die vielleicht nicht schwimmen können.

Sobald das halbwegs unter Kontrolle ist, kann ich vorsichtig an das Boot heranfahren. Dann geht es darum, die Leute auf die Schlauchboote zu holen. Dabei geht es oft richtig zur Sache, weil natürlich alle möglichst schnell auf unsere Rettungsboote wollen. Hier ist „Crowd Management“ wahnsinnig wichtig. Meine Aufgabe ist es, sehr gut aufzupassen und den Überblick von hinten zu haben, weil es schnell passieren kann, dass Leute anfangen über Bord zu springen, weil sie denken, dass sie dann schneller in unser Boot kommen.

Es gibt diese großen Schlauchboote, auf denen 100 oder mehr Menschen sind. Die sind einfach nicht dafür gemacht, jemals anzukommen.

Wie viele Menschen sind in etwa auf den Booten?

Das hängt vom Bootstyp ab. Es gibt diese großen Schlauchboote, auf denen 100 oder mehr Menschen sind. Die sind einfach nicht dafür gemacht, jemals anzukommen. Wenn man sie sieht, weiß man das. Es sind wahnsinnig lange Schlauchboote mit vielleicht drei Komponenten. Wenn eine von ihnen ein Loch hat, ist 1/3 des Bootes hinüber.

Außerdem gibt es Boote aus Holz und Glasfaserkunststoff. Diese großen Holzboote sind auch richtig mies. Da können bis zu 200 Leute und mehr drauf sein. Die haben nämlich noch ein zweites Deck eingezogen. Und das ist das Böse, denn die Leute, die unten sind, haben praktisch keine Chance, wenn das Boot kentert, zu überleben. Oftmals haben sie auch innen einen Motor. Das heißt, die Leute unten haben auch mit Treibstoffgasen zu kämpfen und sterben oft an den giftigen Dämpfen.

In den mittleren Booten sind meist um die 30 bis 50 Menschen und in den kleineren manchmal auch nur 12 oder 13. Diese kleineren oder mittleren Boote schaffen es immer wieder nach Lampedusa. Neuerdings gibt es auch Boote, die aus Eisen zusammengeschweißt sind – ich habe nur Berichte gehört und ich habe ein bisschen Schiss vor ihnen, weil sie überall scharfe Kanten haben. Einerseits macht es die Boote anfällig, zu sinken, andererseits verletzen sich Menschen oft an den Booten und sitzen dann mit offenen Wunden im Boot. Außerdem kann ein Schlauchboot durch sie schnell beschädigt werden.

Du warst nicht zum ersten Mal bei einem solchen Einsatz für die Seenotrettung dabei. Seit wann engagierst du dich für “SOS Humanity”?

Ich wollte lange Schiffsmechanikerin werden, habe es mir aber ausreden lassen. Während meines Studiums habe ich beschlossen, dass ich immer noch gerne zur See fahren möchte – aber ich möchte weder den Kapitalismus noch die Umweltzerstörung unterstützen, was ich auf Containerschiffen tun würde. Ich habe keine Perspektive darin gesehen, meine Arbeitskraft in eine Industrie zu stecken, die wahnsinnig viel Schweröl verbrennt und der Umwelt schadet.

Als vermehrt über flüchtende Menschen auf dem Mittelmeer berichtet wurde, dachte ich: Wenn ich Mechanikerin bin, kann ich mich dort engagieren und dort arbeiten. So habe ich einen Weg für mich gefunden, doch noch die Ausbildung als Mechanikerin zu machen. 2021 habe ich mich das erste Mal auf dem Mittelmeer engagiert. Seitdem war ich jedes Jahr auf dem Mittelmeer, nicht wahnsinnig regelmäßig und auch nicht immer bei den gleichen NGOs. Bei „SOS Humanity“ habe ich Ende 2022 das erste Mal in der Werft gearbeitet.

In Deutschland habe ich das Schnellbootfahren gelernt. Und das sowie mein Wissen als Schiffsmechanikerin kann ich in die Seenotrettung hier einbringen.

Als vermehrt über flüchtende Menschen auf dem Mittelmeer berichtet wurde, dachte ich: Wenn ich Mechanikerin bin, kann ich mich dort engagieren und dort arbeiten.

Foto: Camilla Kranzusch/ SOS Humanity

Wie kommen die Einsätze zustande? Wie werden sie geplant und wie setzt sich die Crew zusammen? Wie wird entschieden, wann die Crew losfährt und wohin?

Die meisten NGOs haben eine*n „Head of Mission“ (HoM). Hier ist es ein Team aus vier Personen. Das umfasst Kapitän*in sowie die Koordinatorinnen von Rettung, Kommunikation und Versorgung. Zusammen mit Mitarbeitenden, die im Büro an Land sind, entscheiden sie, wo genau wir hinfahren und warum.

Dabei spielen verschiedene Faktoren eine Rolle. Ein großer Faktor ist, wie viele andere NGOs in der Nähe sind, also ob wir gemeinsam einen größeren Bereich abdecken sollten oder ob bereits viele Schiffe vor Ort sind. Das Wetter spielt auch eine Rolle: Wenn gutes Wetter ist, starten mehr Boote. Das heißt, man fährt oft eher dorthin, wo ein bisschen besseres Wetter ist, weil dann die Wahrscheinlichkeit größer ist, ein Boot zu finden. Aber es gibt noch einige weitere Faktoren.

Wer finanziert eure Arbeit? Und erhalten alle Crew-Mitglieder einen Lohn oder Gehalt?

Unsere Arbeit basiert vor allem auf Spenden. Es gibt Großspender und ganz einfach Leute, die auf der Straße, bei Veranstaltungen oder online spenden. Kleine Spenden helfen auch.

Und ja, manche Positionen an Bord werden tatsächlich honoriert. Das Marine-Team, zum Beispiel, das das Boot am Laufen hält, ist angestellt. Und dann gibt es eben die „Operational Crews“, die Rettungen durchführen. Auch manche dieser Positionen sind bezahlt. Das HoM-Team, zum Beispiel, und auch ich werde für diesen Einsatz bezahlt. Es gibt auch einen Schnellbootfahrer, der einen festen Vertrag hat.

Aber wir haben auch Ärzt*innen mit an Bord, die ehrenamtlich an Bord arbeiten. Das heißt, bei denen geht unter Umständen der gesamte Jahresurlaub für diesen Einsatz drauf.

Es ist ein Unding, dass diese Arbeit nötig ist.

Warum ist es dir wichtig, dich bei “SOS Humanity” zu engagieren?

Es ist ein Unding, dass diese Arbeit nötig ist. Also, dass es Umstände gibt, die dazu führen, dass Menschen sich in absolut unsicheren Booten aufs Mittelmeer begeben und einfach hoffen, irgendwo anzukommen. Wenn Menschen so verzweifelt sind … Es ist ein Unding, dass es so weit kommen kann, dass Menschen dermaßen verzweifelt sind. Und wenn es die Möglichkeit gibt, diese Menschen irgendwie zu unterstützen, dann finde ich das gut.

Man kann auch mit Geld unterstützen. Ich habe nicht wahnsinnig viel Geld, aber ich habe das technische Wissen, was ich einbringen kann. Für mich ist es eine relativ logische Schlussfolgerung, zu kommen und zu unterstützen.

Ich finde eure Arbeit bewundernswert, aber ich finde es auch traurig, dass diese Arbeit nötig ist. Ich höre heraus, du wünschst dir eigentlich politische Veränderungen, dass es die Fluchtgründe nicht mehr gibt.

Was wir machen, ist Symptombekämpfung. Und es ist relativ logisch, dass Symptombekämpfung nie wahnsinnig große Wirkung haben wird. Aber wir als Personen, die wir hier sind, können die Ursachen leider nicht bekämpfen, das können andere Leute besser. Aber es passiert halt nicht. Und deswegen sind wir hier, um zu retten.

Vielen Dank für Deine Zeit!

Hier findet ihr „SOS Humanity“:



Fotos: Judith Büthe/ SOS Humanity

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