Sexuelle Belästigung im Internet: Warum jedes Dickpic zur Anzeige gebracht werden sollte

Snapchat“ war noch ein legitimes Kommunikationsmittel und „Drakes“ Song „One Dance“ tönte durch Kopfhörer mit verknoteten Kabeln, als viele Männer* zu glauben begannen, ungefragt Dickpics zu versenden sei ein guter Schachzug im Flirt-Game. Zumindest nahm das femtastics Autorin Rhea Meißner irgendwann Mitte der 2010er Jahre an, als immer mehr ihrer Freundinnen darüber scherzten, wie viele verpixelte Bilder von anonymen Gliedern sie erhielten. Warum das Zusenden von „Dickpics“ sexuelle Belästigung und wirklich kein Kompliment ist sowie dringend angezeigt gehört, hat sie für uns aufgeschrieben.

Einmal erwischte ich mich sogar bei dem Gedanken, nicht reizend oder interessant genug zu sein.

Ein Gespräch mit dem Foto des eigenen Geschlechtsteils zu beginnen, schien Mitte der 2010er Jahre etwas Harmloses zu sein, so als würde jemand schreiben „Baby, I like your style“ und noch keine sexuelle Belästigung. Harmlos war dabei allerdings nur der Umgang mit dieser neuen Form der Belästigung. Das war eine Nebenwirkung sozialer Medien, auf die wir uns mit der mangelnden Kritikfähigkeit der Jugend stürzten – präsent sein war alles. Mögliche Gefahren und Schäden winkten wir als Boomer-Sorgen unserer Eltern ab. Was ist schon das ungefragte Nacktbild einer fremden Person, wenn man im Gegenzug die Möglichkeit grenzenloser Kommunikation erhält. Einmal erwischte ich mich sogar bei dem Gedanken, nicht reizend oder interessant genug zu sein, immerhin war bei mir bis dahin noch nie jemand mit einer verstörenden Offensive in die DMs gestürzt.

Eigene Erfahrungen mit Dickpics

Jahre später öffne ich erwartungsvoll meine Nachrichtenanfragen: Gerade habe ich meine Wohnungssuche geposted und hoffe auf Hinweise. Mir wird ein neuer Chat mit einem unbekannten Benutzernamen angezeigt, auf den ich zuversichtlich klicke. Anstelle eines Angebots für ein Zimmer, starrt mich der erigierte Penis eines nackten Mannes geradeheraus an. Schockiert schließe ich die App, aber das Bild hat sich längst in meinem Kopf eingebrannt.

Meine Beunruhigung möchte ich nicht mehr mit einem ironischen Spruch abtun, der Schulhof liegt jetzt lange genug hinter mir.

Mittlerweile bin ich eine erwachsene Frau und weiß, dass sexuelle Belästigung kein Kompliment ist. Durch das übergriffige Bild fühle ich mich nicht reizend oder interessant, sondern angeekelt und beunruhigt. Der Mann ist in meinem Alter. Er könnte der Freund eines Freundes sein, ein Nachbar oder ein völlig Fremder. Egal wer er ist, ich frage mich: Was zur Hölle denkt er sich dabei?

Seit #MeToo ist die Öffentlichkeit wacher und sensibler geworden, Frauen* überall auf der Welt machen auf Übergriffe aufmerksam und kämpften für ihr Recht auf Selbstbestimmung. Meine Beunruhigung möchte ich nicht mehr mit einem ironischen Spruch abtun, der Schulhof liegt jetzt lange genug hinter mir. Trotzdem fühle ich mich machtlos. Was soll man bitte machen, denke ich mir und schicke in dem Versuch die Unsicherheit abzumildern einen Screenshot des Bildes an meinen Freund. Du kannst das anzeigen, schreibt er, ohne zu zögern.

Ich bin nicht allein

Natürlich ist mir klar, dass das Internet kein Neuland ist, schon gar kein rechtsfreier Raum. Trotzdem bin ich verwundert: Man kann doch kein Dickpic anzeigen, denke ich. Bei der Polizei würde mich nie im Leben jemand ernst nehmen, schießt es hinterher – leider auch aufgrund ähnlicher Erfahrungen in der Vergangenheit. Doch eine schnelle „Google“-Suche bringt Antworten. Ungefragte Dickpics sind nicht einfach geschmacklose Flirt-Versuche, sondern werden juristisch als pornografisches Material eingestuft. Beim Versenden an Minderjährige oder ohne das Einverständnis der Empfänger*in machen sich Absender strafbar. Angeklagten droht nach Paragraf 184 des Strafgesetzbuches bis zu einem Jahr Freiheitsstrafe oder eine Geldstrafe.

Wieso ich die Tragweite der bildbasierten Gewalt unterschätzt habe? Solche Übergriffe sind für viele Frauen* die bittere Realität. Hinzu kommt eine weit verbreitete Sozialisierung à la: Stell dich nicht so an!

Wie kann es an mir als Feministin vorbeigezogen sein, dass diese digitale Machtdemonstration eine offensichtliche Form der bildbasierten Gewalt ist, gegen die vorgegangen werden muss? Wieso muss erst mein Freund mich auf die Idee bringen, etwas zu tun? Den Grund sehe ich darin, dass solche Übergriffigkeiten für viele Personen die bittere Realität darstellen. Nach repräsentativen Befragungen erleben zwei von drei Frauen* in ihrem Leben sexuelle Belästigung. Die wenigsten Menschen bringen „kleinere“ Taten zur Anzeige, obwohl über 99,1 Prozent der Betroffenen von negativen psychologischen Folgen berichten. Ich bin also nicht allein, mit meiner Sozialisierung à la: Es gibt schlimmeres und: Stell dich nicht so an.

Mutig sein!

Dabei sind auch vermeintlich negative Gefühle so wichtig, um Missstände in der Gesellschaft aufzuzeigen. Şeyda Kurts „Hass“ und Ronja von Rönnes „Trotz“ bieten hierfür nur zwei aktuelle Paradebeispiele (und sind absolute Leseempfehlungen). Ich lasse es also jetzt raus, den Frust, den Ekel und die Beunruhigung. Auch die gemeinnützige Organisation „Hate Aid“ ruft dazu auf und vermittelt mich zu dem Portal „Dickstinction“. Mit dessen Hilfe kann ich innerhalb einer Minute eine rechtswirksame Anzeige generieren lassen. Als ich das Dokument herunterlade, erscheint ein Daumen nach oben, daneben steht: „Stark, dass du so mutig bist! Wir glauben, dass nur konsequente Verfolgung das Problem der digitalen Gewalt lösen kann.“ Mein Gefühl switcht zur Erleichterung.

Die Tat zur Anzeige zu bringen hat mich wachgerüttelt, neu verhandelt, was ich mir gefallen lassen muss und was nicht.

Die Frage, was sich der Absender des Bildes beim Versenden gedacht hat, bleibt unbeantwortet. Vielleicht hat er sich, wie 82 Prozent der Befragten einer Studie zu der Motivation hinter Dickpics, erhofft, mich mit seinem Übergriff sexuell zu erregen. Vielleicht wollte er auch Macht ausüben – oder er hat zu häufig „Drake“ gehört und die Zeile „Higher Powers taking a hold on me“ deutlich zu wörtlich genommen.


Sicher ist, dass es bis zu einer Welt frei von Übergriffen noch ein langer Weg ist und eine Anzeige gegen sexuelle Belästigung diesen Umstand nicht auf einen Schlag verändert. Was es allerdings schon geändert hat, ist mich selbst wachzurütteln. Zu hinterfragen, was ich mir gefallen lassen muss und was nicht. Und mit ein bisschen Glück liegen im Briefkasten des fremden Absenders bald Unterlagen, die ihn in Zukunft zweimal darüber nachdenken lassen, wie man auf angemessene Weise ein Gespräch beginnt.



Hier findet ihr ein weitere Zahlen und Fakten zu dem Thema:

Text: Rhea Meißner

Aufmacherbild: Adobe Stock

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