Indien polarisiert: Verlieben sich Indien-Reisende auf der einen Seite Hals über Kopf in die Verrücktheit, das Chaos und die zig putzigen Hindugötter, so lässt einen besonders das Schicksal der indischen Frauen nicht kalt. Inderinnen sind weit von der Gleichberechtigung entfernt. Jede vierte Frau in Indien wird Opfer sexueller Übergriffe. Immer wieder werden Vorfälle von Gruppenvergewaltigungen bekannt. Die Stimme der Inderin selbst wird in den Medien dabei viel zu selten gehört. Das möchten die beiden Journalistinnen Britta Häfemeier und Anja Tietze ändern. Für ihr Projekt Voice of Mother India – eine interaktive Webdoku – reisen sie nach Indien und sprechen mit Inderinnen über ihren Alltag, ihre Herausforderungen und beantworten gleichzeitig die Frage, wo die Inderinnen auf dem Weg zur Emanzipation stehen. Via Skype sprechen wir mit Britta Häfemeier über ihr Projekt – kurz vor ihrem nächsten Indien-Trip.
Indien ist total verrückt und vielleicht das extremste Land der Welt.
femtastics: Was fasziniert euch an Indien?
Britta Häfemeier: Indien ist total verrückt und vielleicht das extremste Land der Welt. Man steigt aus dem Flugzeug aus und hat direkt einen Kulturschock – wobei ich den Kulturschock zurück in Deutschland fast noch schlimmer finde. Das Land ist bunt und die Menschen sind total freundlich und offen. Es wird dir in Indien nicht passieren, dass du Bus fährst und dich keiner anquatscht. Die Inder interessieren sich füreinander. Obwohl sie vergleichsweise arm sind, teilen sie sehr viel.
Außerdem empfinden die Inder ihre Armut nicht so katastrophal wie es von westlichen Medien oft dargestellt wird. Die Opferisierung ist hier nicht unbedingt hilfreich.
Die Inder müssen nicht von uns gerettet werden und wir müssen ihnen auch nicht zeigen, wie man westlich lebt – das ist Quatsch.
Die Inderinnen strahlen eine unglaubliche Stärke aus. Sie haben ihr Leben ziemlich gut im Griff und werden unterschätzt.
Ihr seid schnell auf die Frauen in Indien aufmerksam geworden. Was beeindruckt euch an den Inderinnen?
Die Inderinnen strahlen eine unglaubliche Stärke aus. Sie haben ihr Leben ziemlich gut im Griff und werden unterschätzt. Man denkt schnell, die armen Inderinnen werden nur unterdrückt und haben ein schreckliches Leben. Aber im Land ist viel Bewegung und die Emanzipation ist absolut im Gange – sie dauert eben nur. Das finde ich spannend zu beobachten.
Wie nehmt ihr die Rolle der Frau in Indien war?
Schon deutlich schlechter als bei uns in Deutschland, klar. Die Frauen sind nicht gleichberechtigt.
Wie sieht der Alltag der Inderinnen aus?
Das kommt immer drauf an. Man muss zwischen dem Leben auf dem Land und dem Leben in der Stadt unterscheiden. Auf dem Land haben wir viele Frauen kennengelernt, deren Männer in die Städte gehen, um dort Geld zu verdienen. Die Frauen und die Kinder machen die Landarbeit, weil die trotzdem zum Lebensunterhalt beiträgt. Die Frauen gehen um sechs Uhr morgens aus dem Haus, versorgen vorher noch die Kinder und machen sie für die Schule fertig, sofern die Kinder zur Schule gehen. Dann arbeiten sie den ganzen Tag auf dem Feld und kommen abends wieder, um sich wieder um die Familie zu kümmern. Die Familie hat einen hohen Stellenwert, gerade für die Frau. Das ist ihr Job Number One – auch in der Stadt.
Was hindert die Inderin an der Emanzipation?
Die Kultur und die Tradition. Es ist fest in ihrem Lebensplan verankert, dass sie sich um die Familie und um die Götter kümmert. Die Inderinnen haben nicht so viele Freiheiten wie die Männer.
Die Tradition ist den Inderinnen sehr wichtig. Ist ihnen bewusst, dass sie sie gleichzeitig in ihrer Entwicklung bremst? Wollen sie sich überhaupt mehr emanzipieren?
Viele Inderinnen schon, aber sie wollen auf dem Weg ihre Kultur und Tradition nicht verlieren – was total super ist, sie sollen sich das ja auch beibehalten.
Wie kann dieser Spagat gelingen?
Es ist schwierig, beides zu verbinden. Als wir das letzte Mal in Indien waren, haben wir eine Inderin in Varanasi kennengelernt, die einen Schönheitssalon aufgemacht hat. Sie hatte immer Spaß daran, ihre Freundinnen zu schminken. Ihr Mann hat sie dann unterstützt und ihr geholfen, den Laden zu eröffnen. Es ist wichtig, dass der Mann mitspielt. Sie hat es also geschafft, ihr eigenes kleines Unternehmen zu eröffnen, obwohl sie starken Gegenwind von der Gesellschaft bekommen hat. Leute haben sich gefragt, ob sie arbeiten muss, weil ihr Mann nicht genügend Geld gibt. Aber sie hat es durchgezogen, auch wenn sie einige Freundinnen verloren hat.
Ohne die Männer geht es eben auch nicht. Die müssen mitziehen. Nach wie vor werden viele Mädchen abgetrieben, Frauenleben sind generell weniger Wert.
Auf 1.000 Männer kommen 929 Frauen, das kann nicht sein. Abtreibungen sind eigentlich verboten, selbst der Ultraschall ist nicht erlaubt, da so das Geschlecht bestimmt werden kann. Trotzdem bestechen Familien die Ärzte und dann wird auch der Ultraschall gemacht. Wenn es ein Mädchen ist und die Frau vielleicht schon zwei Mädchen bekommen hat, ist der Druck – auch der finanzielle – der Familie so groß, dass oft abgetrieben wird. Die Mitgift ist ein großes Problem, Familien können sich das schlichtweg nicht leisten und der Sohn ist eben auch die Altersvorsorge.
Es ist fraglich, ob diese Strukturen sich jemals ändern werden.
In der Stadt schon eher als auf dem Lande. Aber es dauert, ja.
Wann kam euch die Idee, diesen Frauen eine Stimme und eine Bühne zu geben.
Nach unserer ersten Indien-Reise haben wir erstmal unseren Bachelor gemacht. Die Idee war aber nie weg und irgendwann wurde es konkret. Wir haben ein Konzept geschrieben und einen Plan für die Finanzierung gemacht. Wir haben ein Crowdfunding gemacht und eine Kamerafrau für unseren nächsten Trip gesucht. Wir übernehmen den redaktionellen Teil.
Was ist die Vision von eurem Projekt?
Wir machen es erstmal und mit der Webdoku soll ein professionelles Ergebnis bei rauskommen. Zweitverwertung ist auch ein Thema. Mal sehen, was sich ergibt.
Wir wollen einfach schauen, wie die Frauen leben. Worin unterscheiden sie sich? Und was für Gemeinsamkeiten gibt es?
Hauptsache, machen! Was wird in den Filmen passieren?
Es werden dokumentarische Filme. Wir haben unterschiedliche Protagonistinnen – manche haben sich schon emanzipiert, andere stehen noch am Anfang. Wir begleiten sie durch ihren Tag. Wir starten in Mumbai und wollen einfach schauen, wie die Frauen leben. Worin unterscheiden sie sich? Und was für Gemeinsamkeiten gibt es? Dabei haben wir die wichtigen Themen Familie, Kultur und Religion immer fest im Blick. Gleichzeitig adressieren wir die Themen sexuelle Belästigung und Vergewaltigung. Statistisch ist jede vierte Frau in Indien Opfer sexueller Gewalt.
Abgerundet wird das Projekt von Expertinnen, die Hintergrundinfos geben. Das sind zum Beispiel Journalisten, Frauenrechtler oder Aktivisten, die sich schon lange mit dem Patriarchat und den Rollenbildern in Indien beschäftigen.
Wie habt ihr die Frauen gefunden?
Einige Frauen haben wir über Kontakte vor Ort gefunden. Einige haben wir per Kaltrecherche von Deutschland aus gefunden. Wir skypen dann und sprechen über das Projekt. Die Inderinnen waren alle sehr offen und freuen sich total darüber, dass sich zwei Frauen aus Deutschland für ihre Geschichte interessieren.
Was ist das Ziel des Projekts?
Wir wollen die Stimmen der Inderinnen nach Deutschland holen. Es wird sehr viel über die indische Frau in den Medien geredet und diskutiert. Ich finde es aber schwierig, aus dem westlichen Blickwinkel ein Urteil über die Frauen zu treffen.
Stichwort Stellvertreterdiskussion, die Frauen selber kommen nicht zu Wort.
Das wollen wir ändern und den Frauen zuhören.
Indien polarisiert ungemein. Viele Menschen haben eine festgefahrene und sehr undifferenzierte Meinung zu dem Land und den Menschen – dabei waren sie selbst meist nie da.
Ich finde das Frauenbild der Inder auch scheiße, aber man kann nicht sagen, hier so geht es richtig, liebe Inder. Man muss die Rahmenbedingungen mit in Betracht ziehen. Und wenn man noch nie da war, sollte man lieber ruhig sein.
Das Gute ist, dass es viel Aufmerksamkeit für das Land gibt und somit auch für euer Projekt. Vielen Dank für das Gespräch!
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