Hila Limar ist Vorstandsvorsitzende der Hamburger NGO „Visions for Children e.V.“, die sich für bessere Bildungschancen in Afghanistan und Uganda einsetzt. Die gebürtige Afghanin und gelernte Architektin ist seit 2007 ehrenamtliches Mitglied und leitet die Organisation seit 2018 hauptamtlich als Geschäftsführerin und Vorsitzende. Wie lässt sich ihre Vision einer besseren Zukunft für alle realisieren? Und inwiefern beeinflussen ihre persönlichen Erfahrungen ihre Arbeit für Frauen*rechte in Afghanistan? Im Interview spricht Hila über ihr Engagement, positive Veränderungen herbeizuführen, und zeigt auf, welche Hindernisse sie auf diesem Weg überwinden muss.
Hila Limar: Krisen führen bei mir nicht zur Ohnmacht, sondern zu Aktivismus – das ist eine meiner Stärken. Besonders in den Projektländern denke ich auf Mikroebene über Lösungen nach. Auf meiner letzten Reise nach Uganda erfuhr ich von einem weitreichenden Problem: Die Dropout-Rate aufgrund von Teenagerschwangerschaften war stark angestiegen. Mädchen* hörten auf, zur Schule zu gehen, das betraf das ganze Land.
Trotz der überwältigenden Herausforderungen analysierte ich auf Mikroebene: Was kann unsere Organisation konkret tun, um die Mädchen* zurück zur Schule zu bringen? Meine Vision war nie, das Leben aller Menschen sofort zu verbessern. Wenn eine kleine Gruppe sich sicherer und wohler fühlt, weil sie zur Schule geht, ist das bedeutend. Jede*r kann etwas tun, selbst das tägliche Unterschreiben von Petitionen kann einen Unterschied machen.
Krisen führen bei mir nicht zur Ohnmacht, sondern zu Aktivismus – das ist eine meiner Stärken.
Das Thema empfinde ich als äußerst komplex und hochsensibel, da es politische, religiöse und gesellschaftliche Dimensionen umfasst. Die Spaltung in unserer Gesellschaft erstreckt sich über verschiedene Gruppen, von religiösen und ethnischen bis zu politischen Differenzen. Die lang anhaltende Abwesenheit einer Waffenruhe, besonders nach über 10.000 Todesfällen, empfand ich als problematisch und die mangelnde humanitäre Unterstützung wirft bei mir viele Fragen auf.
Die einseitige und teilweise schockierende Medienberichterstattung verstärkt die Polarisierung, während oft bestimmte Stimmen ungehört bleiben. Das jetzt teilweise gelockerte Demonstrationsverbot betrachte ich kritisch, da Demonstrationen für mich wichtige Möglichkeiten sind, Emotionen freizulassen und Solidarität zu zeigen.
Ende 2006 begann ich bei „Visions for Children e.V.„. Zu der Zeit lief das Projekt neben meiner Arbeit als Architektin. Meine Arbeit als Architektin mit einer 60-80-Stunden-Arbeitswoche war von Stress geprägt. Ab 2014 nahm die Arbeit bei „Visions for Children e.V.“ zu, besonders durch die Aufmerksamkeit und Spendenunterstützung für Geflüchtete aus Syrien und Afghanistan.
In Architekturbüros dachte ich oft: „Wir arbeiten an Luxus-Bauprojekten und andere Menschen haben nicht genug zu Essen.“ Die Sinnhaftigkeit von „Visions for Children e.V.“ wurde mir klar, und ich musste mich entscheiden. Ich konnte nicht beides mit diesem Pensum fortsetzen, also entschied ich mich für „Visions for Children e.V.“.
Trotz der überwältigenden Herausforderungen analysierte ich auf Mikroebene: Was kann unsere Organisation konkret tun, um die Mädchen* zurück zur Schule zu bringen?
Mit meiner Familie kam ich nach Deutschland und erkannte, wie privilegiert wir hier in Bezug auf Sicherheit, Perspektiven und Bildung leben. In Afghanistan hätte meine Bildung aufgrund der Taliban-Regierung 1996 bis 2001 bereits nach der Grundschule geendet. Diese Erfahrung hat mir bewusst gemacht, dass das, was in Deutschland selbstverständlich ist, ein Privileg darstellt. Daraus entwickelte sich meine Motivation, Menschen eine Plattform und Stimme zu geben sowie gemeinsam Verbesserungen anzustreben.
Wir sind ein in Hamburg ansässiger gemeinnütziger eingetragener Verein. Unsere Mitarbeiter*innen und Ehrenamtlichen sitzen deutschlandweit und wir sind aus ehrenamtlichen Strukturen gewachsen. Unsere Partnerschaften beschränken sich auf lokale Organisationen und variieren je nach Region. Derzeit kooperieren wir mit zwei Organisationen in Afghanistan und einer in Uganda. Der Austausch und die Koordination erfolgt regelmäßig über Anrufe, Video Calls, E-Mail oder „WhatsApp“. Mein Ziel ist es, ihre Arbeit zu verstehen, und wir agieren nicht einfach nur als Geldgeber*innen, ohne vor Ort informiert zu sein. Mindestens zweimal im Jahr, wenn möglich, sind wir vor Ort.
Im Laufe der Jahre haben wir ganze Schulgebäude mit Fachräumen, Spielplätzen und Bibliotheken errichtet.
Die Geschichte von „Visions for Children e.V.“ begann 2006 mit der Unterstützung eines Schulprojekts in Kabul nach dem Ende des ersten Taliban-Regimes. Zu dieser Zeit war es ungewöhnlich, dass Jungen* und Mädchen* gemeinsam unterrichtet wurden. Die Schule befand sich in einem Privathaus aufgrund fehlender Infrastruktur. Unsere anfänglichen Projekte konzentrierten sich auf kleinere Maßnahmen wie Inventar, Sanitäranlagen oder Dachrenovierung.
Im Laufe der Jahre haben wir ganze Schulgebäude mit Fachräumen, Spielplätzen und Bibliotheken errichtet. Die enge Zusammenarbeit mit der Gemeinschaft ist entscheidend. Wir nehmen nie an, besser zu wissen, was die Menschen brauchen, sondern fragen stets nach. Ich analysiere, was fehlt, sei es an Kopierern, Schreibpapier oder auch Räumlichkeiten. Anfangs sagen die Menschen, dass sie nichts haben und die finanziellen Mittel begrenzt sind. Aber es geht nicht nur darum. Die Gemeinschaft und ihre Ressourcen sind ebenfalls entscheidend. Viele Herausforderungen sind nicht rein materieller Natur, wie beispielsweise die Schulabbrüche von Kindern.
Kinder müssen manchmal arbeiten, um die Familie finanziell zu unterstützen, bedingt durch kulturelle Normen oder geringere Wertschätzung der Bildung für Mädchen*. Möglicherweise helfen sie zu Hause bei der Kindererziehung oder -betreuung. Die Ursachen sind vielfältig, von mangelndem Verständnis für Bildung bis zu existenziellen Sorgen in Kriegsgebieten. In ugandischen Gemeinschaften kann Scham ein Hindernis sein, wenn Bildung nicht geschätzt wird. Andere Eltern können dabei intervenieren, uns unterstützen und eine helfende Rolle übernehmen.
Wir stehen vor zahlreichen Herausforderungen, besonders auf der Metaebene der gesetzlichen Grundlagen in Afghanistan, wo ein Bildungsverbot für Mädchen ab der 7. Klasse herrscht. Das Sicherheitsrisiko für Mitarbeiter*innen und Schüler*innen, die geheime Schulen oder Online Unterricht betreiben, ist extrem hoch. Neben rechtlichen Schwierigkeiten begegnen wir kulturellen Herausforderungen, vor allem im Bewusstsein für die Bildung von Mädchen*.
Bekannt ist, dass weniger Mädchen* zur Schule gehen, die Gründe dafür sind vielfältig. Finanzielle Gründe können dazu führen, dass Familien ihre Töchter* früh verheiraten, was ein Hindernis für ihre schulische Bildung darstellt. Banale Dinge wie der Schulweg können ebenfalls problematisch sein, besonders wenn er zu weit ist oder in Kriegsgebieten durch Kampfhandlungen unsicher.
Ein weiteres Hindernis sind fehlende Sanitäranlagen. Ohne sichere Orte während der Menstruation fühlen sich Mädchen* unwohl, was zu einer hohen Abbruchrate führen kann. Bedenkt man, dass Mädchen* aufgrund dieser Probleme mehrere Tage pro Woche oder sogar bis zu zehn Tage im Monat fehlen, wird klar, dass dies eine große Lücke ist, die schwer aufzuholen ist. Es gibt keine Möglichkeit für Nachhilfe, da die Mädchen* zu Hause im Haushalt helfen, sich um Geschwister kümmern oder sogar arbeiten bzw. keine finanziellen Mittel für die Nachhilfe da sind.
Neben rechtlichen Schwierigkeiten begegnen wir kulturellen Herausforderungen, vor allem im Bewusstsein für die Bildung von Mädchen*.
Der Abzug wurde im April 2021 angekündigt, zu der Zeit war ich gerade in Afghanistan. Man hoffte, dass der geplante Termin nie eintreten und sich diese Entscheidung ändern würde. Die Anspannung war hoch, nicht nur bei der Bevölkerung, sondern auch bei den Akteur*innen der Entwicklungszusammenarbeit. Der Abzug fand am 15. August 2021 statt. Die Situation in Afghanistan hat sich seitdem stark verkompliziert.
Unsere Projekte wurden zunächst seitens der Bundesregierung eingefroren, da die Rechtslage unklar war. Wir entschieden uns, an der Seite der Bevölkerung zu bleiben. Die Evakuierung unserer Kolleg*innen, die innerhalb von zwei Wochen geplant war, dauerte zum Teil sechs Monate. Die Ukraine-Krise verdrängte Afghanistan aus den Schlagzeilen. Die Aufmerksamkeit wandte sich anderen Krisen zu, was unsere Arbeit und Finanzierung beeinträchtigte. In Afghanistan verschlechterte sich die Lage für Frauen* in fast allen Bereichen, für junge Frauen*/Mädchen durch das Bildungsverbot ab der Grundschule besonders im Bildungsbereich. Wir wussten nicht, ob Lehrerinnen arbeiten würden. Die Evakuierung unserer Mitarbeiter*innen war kompliziert, und die Bundesregierung war überfordert.
Die Lage im Land hat sich verschärft und von einer humanitären, wirtschaftlichen und Bildungskrise zu einer katastrophalen Abwärtsspirale entwickelt. Das Bildungs- und das Gesundheitssystem sind zusammengebrochen oder stehen kurz davor, hauptsächlich aufgrund fehlender Haushaltsgelder. Rund 75 % der staatlichen Mittel kamen zuvor aus dem Ausland. Die Sanktionen gegen Afghanistan haben zu einer Wirtschaftskrise geführt, da Import und Export nicht mehr möglich sind. Dies beeinträchtigte Unternehmen und Industrien, die nun Arbeitsplätze abbauen müssen. Die finanzielle Armutsrate ist stark gestiegen, die Mittelschicht driftet zur Unterschicht ab und die medizinische Versorgung sowie die Bildungssituation sind kritisch.
Das Einfachste ist, unsere Beiträge zu teilen, uns zu folgen und zu liken. Wir sind dankbar für jede Sichtbarmachung unserer Arbeit und der Situation in den Projektländern. Wer möchte, kann monatlich spenden und Fördermitglied werden. Als Fördermitglieder bzw. durch monatliche Spenden unterstützt ihr uns nachhaltig, denn es ist vergleichbar mit einem Gehalt, das dazu beiträgt, unsere Ausgaben zu decken.
Diese Planungssicherheit ist für uns von großer Bedeutung. Ihr könnt aktiv als ehrenamtliche Person mitwirken, indem ihr eure Zeit spendet – von zwei bis zu 20 Stunden pro Woche. Auch Studierende, die mehr Zeit haben, sind herzlich willkommen. Euer Engagement hilft nicht nur uns, sondern allen, die an diesen Themen arbeiten. Wichtig ist, die Betroffenen nicht zu vergessen, sich weiterhin zu informieren, dran zu bleiben und darüber zu sprechen.
Fotos: Carolin Windel