Den Boxsport würde man nicht unbedingt damit in Verbindung bringen, sich empathisch in andere Menschen hineinzufühlen. Jochen (Joe) Schmidt kombiniert genau das. Der 38-Jährige ist nicht nur doppelter Hamburger Vizemeister im Schwergewichtsboxen (2018 und 2019), sondern auch Diplom-Sportwissenschaftler, Personal Trainer und systemischer Coach. Als Gründer des Boutique-Gyms „HHometown“ in Hamburg hilft Jochen seinen Kund*innen dabei, an ihre Grenzen zu gehen – und sich körperlich wie mental weiterzuentwickeln. Wir treffen den gebürtigen Bremer in seinem Studio und sprechen darüber, warum er den olympischen Boxsport so liebt, wie Boxen, Coaching und Beratung zusammenpassen, und warum er seinen Traum erst beim zweiten Anlauf in die Tat umgesetzt hat.
Jochen Schmidt: Ich war immer ein Bewegungskind – und natürlich dachte ich: Wie geil ist das, Sport zu studieren und jeden Tag Sport machen zu dürfen? Ich habe mich im Studium besonders für die medizinischen Themen interessiert: Anatomie, Kardiologie, Orthopädie, … Die Zusammenhänge zwischen Bewegung und dem Körper fand ich immer schon sehr spannend. Ich selbst habe alle möglichen Sportarten ausprobiert und über lange Jahre intensiv Fußball gespielt. Im Studium habe ich mit Triathlon begonnen – und sowieso immer Krafttraining gemacht.
Ich war in Mainz, wo ich studiert habe, in einem Gym, wo auch zwei sehr erfolgreiche jugoslawische Kickboxer trainiert haben. Allein ihnen zuzugucken hat mich fasziniert. Als ich das erste Mal selbst geboxt habe, war ich direkt Feuer und Flamme – das war in Hamburg. Seitdem atme und lebe ich diesen Sport. Das hat mich total gefangen, mehr als jede andere Sportart zuvor. Ich habe mit Thaiboxen begonnen, bin dann in ein reines Boxstudio und dann ins Olympische Boxen gewechselt. Seit 2013 trainiere ich mit Lukas Schulz und Erol Anilmis.
Mir ist schon sehr früh klar geworden, dass die Seele und die Art und Weise wie wir uns bewegen und Sport treiben, untrennbar miteinander verbunden sind.
Du kommst direkt mit dir selbst in Kontakt. Der wahre Mensch zeigt sich sehr schnell. Ich habe in keiner anderen Sportart einen auch nur ansatzweise so respektvollen Umgang mit einander erlebt wie beim Boxen. Das Boxen fordert in höchstem Maße Tugenden wie Durchhaltevermögen, Ausdauer, Aufrichtigkeit und Fairness. Ich liebe die Klarheit dieser Sportart, die auch eines meiner Mottos so schön unterstreicht: Clarity is Power! Nur wenn ich weiß, wo ich hinwill, kann ich mein Potential entfalten.
Ich bin 2011 nach Hamburg gekommen, mit der Idee ein eigenes Gym zu eröffnen. Ich habe damals sehr viel Energie hineingesteckt, aber es war nicht der richtige Zeitpunkt für mich. Im Oktober 2011, einen Abend bevor ich meinen Kreditvertrag unterschreiben wollte, hat mein Bruder mir so den Kopf gewaschen – „Jochen, du hast drei Kunden und willst ein Gym eröffnen? Mach das nicht!“ – dass ich mich nach zehn Monaten Vorbereitung entschieden habe, zurückzutreten. Das war damals die richtige Entscheidung. Ich bin erst einmal nach Los Angeles geflogen, habe Urlaub gemacht und mir von meinen letzten 60 Dollar in Venice „L.A.“ auf den Hals tätowieren lassen. (lacht)
Zurück in Hamburg habe ich mich als Personal Trainer bei „Fitness First“ in Eppendorf eingemietet – das ging damals nach dem Franchise-Prinzip. Ich habe von morgens um 7 bis 23 Uhr gearbeitet, montags bis samstags, und Kunden akquiriert. Wenn ich gesehen habe, dass jemand falsch trainiert hat, habe ich einfach gefragt, ob ich ihm oder ihr einen Tipp geben darf. Zwei Wochen später kamen sie dann zu mir: „Das hatte Hand und Fuß, was du gesagt hast. Was kostet denn eine Trainingsstunde bei dir?“. So habe ich mir peu à peu meinen Kundenstamm aufgebaut. Die Idee, ein eigenes Gym zu eröffnen, hatte ich aber noch im Kopf.
Eine Ausbildung zum systemischen Coach habe ich dann gemacht, weil ich ein paar konkrete Erlebnisse im Training hatte. Ich habe gespürt, dass die richtige Bewegung und der Sport manchmal Schleusen öffnen: Auf einmal flossen bei meinem Coachee Tränen, weil ich irgendetwas aufgerührt und in Bewegung gesetzt hatte. Da habe ich gemerkt, dass hier mit Sport Ende war. Ich habe einen Schlüssel, um etwas zu öffnen, hatte aber nicht die Tools, daran weiter zu arbeiten. Vor fünf Jahren war deshalb erstmal die Ausbildung zum systemischen Coach das Richtige. Diese Ausbildung hilft mir in meiner Arbeit mit Menschen immens. Jetzt geht es weiter und ich beginne meine Ausbildung zum Gestalttherapeuten. Ich will noch viel mehr wissen über den Zusammenhang und die Wechselwirkungen von Seele, Körper und Bewegung.
Zuerst dachte ich: „Ich will ja nicht für immer Personal Trainer bleiben.“ Aber das ist etwas, das andere Menschen mir immer einreden wollten – „Das willst du ja nicht immer machen. Du willst ja auch irgendwann mal machen lassen.“ Da war ich noch unsicher und dachte: „Ja, stimmt.“ Heute ist das anders, heute sage ich: „Doch, vielleicht schon.“ Ich integriere meine Ausbildung als Coach heute in meine Arbeit als Personal Trainer.
Ich habe in keiner anderen Sportart einen auch nur ansatzweise so respektvollen Umgang mit einander erlebt wie beim Boxen.
Mir ist schon sehr früh klar geworden, dass die Seele und die Art und Weise wie wir uns bewegen und Sport treiben, untrennbar miteinander verbunden sind. Als ich dann angefangen habe, mich für Psychotherapie zu interessieren und etwas tiefer zu schauen, habe ich gemerkt, dass in der klassischen Psychotherapie unser Korpus gar keine Rolle gespielt. Also ja, die ganzheitliche Betrachtung ist Teil der „HHometown“-Philosophie.
Das knüpft am vorigen Thema an: Sport soll ein Teil des Lebens sein und das Gym sich anfühlen wie ein zweites Wohnzimmer, in das man gerne geht. Es soll ein geschützter Raum sein sich auszuprobieren und einfach sein zu dürfen.
Ich schaffe es mit „HHometown“ und meiner Art einen sehr liebevollen Rahmen zu schaffen, in dem Menschen wieder in Kontakt mit sich selbst kommen. Viele meiner Kund*innen sind beruflich sehr erfolgreich, tragen eine hohe Verantwortung, haben einen sehr eng getakteten Alltag, und manchmal haben sie den Kontakt zu sich selbst in den vergangenen Jahren verloren – und ich darf dabei sein, wenn sie ihn wieder entdecken. Ich biete einen geschützten Raum, um etwas Neues zu lernen und sich selbst zu fordern. Ich schaffe es, in kürzester Zeit Grenzerfahrungen zu kreieren. Dafür muss man nicht auf den Mount Everest steigen, das schaffe ich hier in einer Stunde. (lacht)
Ich bin erst einmal nach Los Angeles geflogen, habe Urlaub gemacht und mir von meinen letzten 60 Dollar in Venice „L.A.“ auf den Hals tätowieren lassen.
Es geht darum zu merken, was man – egal, in welchem Alter, Gesundheits- und Trainingszustand man ist – mit seinem Körper anstellen kann. Es geht darum, seine eigene Kraft zu spüren. Ich bin wer, hier stehe ich und ich habe alle Tools, durchs Leben zu gehen. Wenn ich will, wehre ich mich, wenn ich will, gehe ich einen Schritt zur Seite oder zurück.
Ich habe einen Box-Workshop zum Thema Führungskräfte und agiles Arbeiten entwickelt. Im Test-Workshop kam eine Dame zu mir, die meinte: „Mein Chef schickt mich, ich weiß eigentlich gar nicht, was ich hier soll.“ Sie war eher introvertiert und hat sich etwas versteckt. Nach eineinhalb Stunden hat sie fast den Sandsack von der Decke geboxt und wollte gar nicht mehr aufhören. In der Feedback-Runde sagte sie: „Es war ein großartiger Moment für mich, zu spüren, was ich eigentlich kann“. So etwas passiert hier immer wieder. Im Grunde wird hier in sich hineingefühlt.
Vor zwei Jahren bekam ich eine Anfrage, ob ich nicht einen Boxkurs in einem Unternehmen geben will. Das war ein großer Konzern, der seine Gebietsleiter für ein Wochenende nach Hamburg schickt. Ich hatte hier acht Top-Manager*innen stehen, die nach dem Workshop total durchgedreht sind. Ich habe brutal gutes Feedback bekommen. Danach habe ich angefangen, zusammen mit der „Coaching Akademie“ hier in Hamburg Workshops zum Thema Boxen für Führungskräfte zu entwickeln. Ein erster Aha-Moment ist zum Beispiel die Erkenntnis, dass man beim Boxen zu 90% seine schwache Hand nutzt. Das lässt sich auch auf Führung übertragen – besonders für Männer. Es hat insgesamt viel mit Arbeit 4.0 zu tun. Und viele Prinzipien des Boxens wie zum Beispiel die Flexibilität lassen sich auf das agile Arbeiten übertragen. Daraus habe ich meine „HHometown Box-Hub“ Workshops entwickelt. Das ist mein zweites Standbein neben dem Personal Training.
Ich schaffe es, in kürzester Zeit Grenzerfahrungen zu kreieren. Dafür muss man nicht auf den Mount Everest steigen, das schaffe ich hier in einer Stunde.
Es geht darum, seine eigene Kraft zu spüren. Ich bin wer, hier stehe ich und ich habe alle Tools, durchs Leben zu gehen.
Jeder Tag ist anders, es ist sehr divers. Ich gebe nur noch fünf Coachings am Tag, weil ich für jedes Training frisch und ganz da sein muss. Dazu kommt aber: netzwerken, etwas reparieren, E-Mails, Steuer, … ich habe meist 10- bis 12-Stunden-Tage. Ich bin selbst noch aktiver Boxer und trainiere mindestens vier-, meistens fünfmal pro Woche mein eigenes Training. Natürlich mache ich auch mal Pausen, das ist extrem wichtig. Vor eineinhalb Jahren habe ich Fahrradfahren durch die Natur für mich entdeckt. Das bringt mich sofort runter. In meinem Urlaub bin ich gerade mit dem Fahrrad von Hamburg nach Göteborg gefahren.
Meine Expertise ist Bewegung. Natürlich habe ich Wissen zu Ernährung, aber ich erlebe meine Kund*innen um dieses Thema extrem gestresst. Ich persönlich folge keiner Diät, Paleo, Atkins, Metabolic Balance, … Welchen Stress sich Menschen da machen! Da kann ich nur sagen: „Trainier mal bei mir, dann kannst du abends auch Pizza essen, wenn du willst!“. Bewegt euch! Wir leben hier in einem Land des Überflusses und dann ständig zu sagen: „Das kann ich nicht essen, das nicht, das nicht …“, das finde ich einfach irre. Zudem ist die Zeit gerade eh intensiv, mit Corona und allem, und das Thema Selbstoptimierung beschäftigt viele Menschen – gerade das Thema Ernährung birgt großes Gefahrenpotenzial, sich noch mehr unter Druck zu setzen.
Natürlich achte ich darauf, einigermaßen ausgewogen zu essen – und ich verzichte auf Alkohol im Alltag. Aber ich gönne mir auch, meistens am Wochenende. Und wenn ich in Deutschland Fahrradurlaub mache, esse ich jeden Tag Spaghetti-Eis.
Wir leben hier in einem Land des Überflusses und dann ständig zu sagen: „Das kann ich nicht essen, das nicht, das nicht …“, das finde ich einfach irre.
Ich freue mich jetzt erst einmal auf meine Ausbildung zum Gestalttherapeuten bei einem Coach hier in Hamburg, der mich selbst schon seit einigen Jahren begleitet.
Hoheluftchaussee 40A, 20253 Hamburg
Layout: Kaja Paradiek