Rebecca Maskos: So kann Inklusion in Kitas und Schulen gelingen

„Bist Du behindert oder was?“: So heißt das neue Buch von Rebecca Maskos und Mareice Kaiser. Das Buch handelt davon, wie Inklusion bereits in jungen Jahren gelingen kann. Die studierte Psychologin und Journalistin Rebecca Maskos ist seit ihrer Geburt kleinwüchsig und hat Glasknochen, weshalb sie einen Rollstuhl benutzt. Erst im Erwachsenenalter hat sie wirklich verstanden, wie wenig inklusiv unsere Gesellschaft ist und woran das liegt.

Rebecca hat sich viel mit dem Thema Inklusion beschäftigt und für die „Randschau, Zeitschrift für Behindertenpolitik“ darüber geschrieben. Während ihres Studiums der Disability Studies in Chicago verändert sich ihr Blick nochmals. „Auf der Straße wurde ich nach der Uhrzeit gefragt und nicht angesprochen, was ich denn hätte“, erzählt Rebecca. Die USA in den Nuller Jahren waren Deutschland in Sachen Barrierefreiheit und einem selbstverständlichen Umgang mit Behinderung weit voraus. So lernt Rebecca in Chicago viel von der Behindertenbewegung in den USA. Heute arbeitet sie als wissenschaftliche und journalistische Fachautorin und sensibilisiert als Weiterbildnerin für Ableismus und Inklusion.

Dabei ist ihr wichtig zu betonen, dass Inklusion uns alle betrifft. „Je älter wir werden, desto mehr Beeinträchtigungen haben wir“, meint Rebecca. Wir sprechen mit ihr darüber, wie inklusiv Kita, Kindergeburtstag und Co. sind – und wie wir Kinder ableismussensibel erziehen können.

femtastics: Dein Beruf ist eng mit der Sensibilisierung für Ableismus und Inklusion verschränkt. Ist es emotional anstrengend, immer wieder auch die eigenen Diskriminierungserfahrungen auf den Tisch zu legen?

Rebecca Maskos: Eigentlich nicht. Sonst könnte ich meine Arbeit als Wissenschaftlerin und Journalistin gar nicht machen. Ich schreibe und spreche viel über meine eigenen Diskriminierungserfahrungen, aber oft nur als Aufhänger. Mich interessiert ja nicht nur die Erfahrung als solche, sondern eher was dahintersteckt, also die strukturelle Diskriminierung. Die kulturellen Muster, die sich immer wieder reproduzieren. Ich schaue mir an: Woher kommt das und wie könnte man es verändern? Ich finde es eher anstrengend, dass ich überhaupt diskriminiert werde.

Mein Gefühl war, dass alle Erwachsenen, sowohl die Lehrer*innen als auch meine Eltern, damit überfordert waren.

Verständlich. Wie sah deine Kindheit aus? Hast du viele Diskriminierungserfahrungen machen müssen?

Ich hatte im Grunde eine ganz normale Kindheit und Jugend mit vielen Freund*innen. Ich war fast überall mit dabei. Aber klar, leider habe ich auch eine Menge Diskriminierungserfahrungen gemacht und Ausgrenzung erfahren. Ich bin Mitte der Siebzigerjahre geboren. In den Kindergarten durfte ich damals leider nicht gehen, dem Personal erschien das „zu gefährlich“.

Anfang der Achtzigerjahre bin ich in die Schule gegangen und hatte eine für damalige Verhältnisse ungewöhnlich inklusive Schulzeit, da ich von Anfang an auf eine Regelschule gegangen bin. Das mussten meine Eltern aber lange erkämpfen, weil das eigentlich gegen die damalige Sonderschulpflicht für behinderte Kinder war. Auf der Sonderschule wäre ich aus dem Freundeskreis in meiner Straße herausgerissen worden. Ich wäre morgens früh abgeholt worden und hätte den ganzen Tag in der Schule verbracht, hätte vielleicht auch kein Abitur gemacht. Auf der Regelschule war ich gut integriert, habe aber auch Phasen mit Mobbing erlebt. Mein Gefühl war, dass alle Erwachsenen, sowohl die Lehrer*innen als auch meine Eltern, damit überfordert waren.

Wie haben die Erwachsenen denn reagiert, als Du ihnen von Mobbing-Erfahrungen erzählt hast?

Die Reaktion war meistens: „Damit musst du dich leider abfinden.“ Dabei wäre es wichtig den Raum zu haben, über Mobbing-Erfahrungen zu sprechen. Mir wurde immer vermittelt, dass das halt so ist wenn man behindert ist. Empowert und gestärkt wurde ich nur selten. Ich hatte lange das Gefühl, dass ich das Problem bin und normaler werden und mich anpassen muss. Heute sehe ich es genau umgekehrt: Nicht wir sind das Problem, sondern die Klischees und die falschen Vorstellungen von Behinderung.

Nicht wir sind das Problem, sondern die Klischees und die falschen Vorstellungen von Behinderung.

Du sagst, dass du vielleicht im Anschluss an eine Förderschule kein Abitur gemacht hättest. Wieso?

Auf einer Förderschule ist das Bildungsniveau grundsätzlich schlechter, auch heute noch. Förderschulen bereiten allgemein für auf den Arbeitsmarkt vor. Es wird erstmal davon ausgegangen, dass behinderte Schüler*innen nicht studieren werden. Viele Kinder und Jugendliche bleiben dort unterfordert. Auch ich wäre dort wahrscheinlich unter meinen Möglichkeiten geblieben. Wenn ich auf eine Sonderschule gegangen wäre, hätte ich wohl mit etwa 15 Jahren auf ein Internat weit weg von meiner Familie gehen müssen, um das Abitur zu machen.

Das wäre zudem mit viel mehr Hürden verbunden, als wenn man das Abitur an einer Schule in der Nähe macht. Was forderst du heute? Wie muss sich das Schulsystem ändern, um inklusiver zu werden?

Das Traurige ist wirklich, dass alles davon abhängt, was für Eltern und Lehrer*innen man hat. Und ob sie die Zeit und die Skills haben, sich gegen das ausgrenzende System zu wehren oder nicht. In meinem Fall hatte ich Glück, dass meine Mutter die Zeit und Kraft hatte, alle Hebel in Bewegung zu setzen, damit ich die gleichen Chancen wie meine drei Geschwister bekomme. Wenn beide Eltern arbeiten oder es Sprachbarrieren gibt, ist das kaum stemmbar. Deshalb muss strukturell sichergestellt werden, dass alle Kinder wohnortnah und mit den Kindern aus ihrem Umfeld zusammen auf die Schule gehen können.

Wie sieht der inklusive Unterricht im Idealfall aus?

Man muss schauen, welches Kind welche Materialien und Unterstützung braucht. Bremen geht in der Inklusion mit positivem Beispiel voran. Hier gibt es verhältnismäßig viele Schulhelfer*innen und Personal, welches Kinder unterstützt. Für manche Kinder braucht es auch kleinere Gruppen und ruhigere Räume. Das kann ganz unterschiedlich sein. Dabei geht es eben eben nicht nur um die Rampe am Eingang, sondern zum Beispiel auch Gebärdensprachdolmetscher*innen oder eine Unterstützung beim Bearbeiten der Aufgaben. Das sind Dinge, die nicht immer ausreichend finanziert und klar geregelt sind.

Oft müssen die Eltern die Kosten für Schulassistenz sehr umständlich beantragen. Die Politik könnte hier strukturell so viel sicherstellen, sofern Inklusion in Kitas und der Schule als auch gesellschaftlich wirklich mal ernst genommen werden würde.

Dabei geht es eben eben nicht nur um die Rampe am Eingang, sondern zum Beispiel auch Gebärdensprachdolmetscher*innen oder eine Unterstützung beim Bearbeiten der Aufgaben.

Das klingt logisch, denn auch nicht behinderten Kindern hilft es, wenn es mehr um die Bedürfnisse von allen geht und geschaut wird, dass alle mitkommen.

Genau das wird ja auch als eine Lehre aus „Pisa“ verstanden. Seit Langem hat Finnland ein inklusives Bildungssystem, bei dem auf die individuellen Bedürfnisse der einzelnen Kinder eingegangen wird. Da geht es gar nicht mehr darum, ob das Kind eine bestimmte Diagnose hat. Es wird allgemein nach der Lebenswirklichkeit der Kinder geschaut: Gibt es vielleicht eine schwierige familiäre Situation oder eine Sprachbarriere? Es wird überlegt: Wir haben hier ganz unterschiedliche Kinder. Was brauchen die einzelnen Kinder? Wie können wir sie unterstützen?

Also mehr „was brauchen die Kinder?“ anstelle von „was haben sie?“?

Genau.

Euer Buchtitel „Bist Du behindert oder was?“ spielt ja darauf an, dass Kinder und Jugendliche „behindert“ immer noch als Beleidigung verwenden. Sind Kinder ableistischer als Erwachsene?

Nein. Kinder und Jugendliche spiegeln das wider, was gesellschaftlich verankert ist. Man kann sich fragen, warum es überhaupt diese Beleidigung gibt. Ich denke es liegt daran, dass „behindert“ mit Schwäche, Abhängigkeit, Passivität und „Nicht-erwachsen-sein“ assoziiert wird. Das sind ja alles Dinge, die Jugendliche nicht sein wollen. Jugendliche greifen nur das auf, was sie gesellschaftlich jeden Tag präsentiert bekommen, also die Normativität, die Standards. All die Körperideale und Zwänge, die im Sport oder in Filmen gezeigt werden.

Eigentlich scheitern alle Menschen auf unterschiedlichen Arten und Weisen an diesen Idealen. Die gesamte Gesellschaft ist so aufgebaut, dass man eigentlich nur klarkommt, wenn man möglichst nicht behindert ist. Das übernehmen die Kinder und verstehen das früh.

Die gesamte Gesellschaft ist so aufgebaut, dass man eigentlich nur klarkommt, wenn man möglichst nicht behindert ist. Das übernehmen die Kinder und verstehen das früh.

Wie kann man als Elternteil oder Bezugsperson ein Kind ableismussensibel erziehen, damit es „behindert“ eben nicht als Beleidigung versteht und verwendet?

Man sollte mit Kindern über Behinderung sprechen, aber eben nicht als etwas, das man bemitleiden sollte oder was mit einem schlimmen Schicksal verbunden ist. Sondern eher als etwas, das ein Teil menschlicher Vielfalt ist – und dass das nichts Schlechtes ist. Also dass wir alle unterschiedlich sind. Und dass man vor behinderten Menschen keine Angst zu haben braucht.

Es hilft, Gemeinsamkeiten zu finden. Wenn es zum Beispiel um ein behindertes Kind geht, nicht sagen, dass das Kind „besonders“ oder „krank“ ist. Sondern eher etwas sagen wie: „Schau, das Kind hat ganz ähnliche Turnschuhe wie du an oder es mag die gleichen Bilderbücher“. Man sollte versuchen, Behinderung nicht zu stigmatisieren.

Eltern auf Kindergeburtstagen oder in Kitas sind oft unsicher, ob sie etwas falsch machen – und das Kind mit Behinderung darf dann nicht kommen. Was rätst du hier?

Ich würde dazu raten, eher zu überlegen, was ist möglich? Und nicht aus lauter Angst etwas falsch zu machen, eine Begegnung von vornherein zu verhindern. Oft ist Inklusion viel einfacher und niedrigschwelliger umzusetzen, als manch eine*r denkt.

Kinder können uns ein Vorbild sein. Die bekommen Inklusion oft sehr beiläufig hin. Sie stellen untereinander mehr Fragen, weil Kinder sich sehr für Unterschiede interessieren. Aber sie gehen damit dann auch gelassener um: Wenn sie die Fragen beantwortet bekommen, ist das Thema gegessen. Denn behinderte Kinder sind eigentlich die Expert*innen ihrer selbst und wissen schon ganz gut, was sie können und was sie brauchen. Es lohnt sich, sich darauf einzulassen, nachzufragen und sich Dinge von ihnen erklären zu lassen.

Kinder können uns ein Vorbild sein. Die bekommen Inklusion oft sehr beiläufig hin.

Nimmst du derzeit gewisse gesellschaftliche Fortschritte wahr? Oder gibt es einfach noch sehr viele Baustellen?

In den USA kam ich damals aus dem Staunen nicht mehr raus, weil es dort so viel barrierefreier war als in Deutschland. Aber der Kontrast zwischen den USA und Deutschland heute ist nicht mehr ganz so extrem. Einiges hat sich positiv verändert, medial und kulturell. Gleichzeitig ist ein stereotypes Denken bei uns immer noch sehr vorherrschend. Also, dass eine Behinderung ein schweres Schicksal ist, dass eine behinderte Person sich anpassen muss.

Das liegt natürlich auch an den stark separierten Welten. In Behindertenwerkstätten arbeiten behinderte Menschen separiert und für einen viel zu geringen Lohn. Die UN hat Deutschland erst kürzlich dafür gerügt, die UN-Behindertenrechtskonvention kaum zu beachten. In den letzten Jahren sei laut UN keine strukturelle Umsetzung von Inklusion passiert. Es braucht endlich eine konsequente staatliche finanzielle Absicherung von Inklusion.

Du hast gerade gesagt, dass sich einiges kulturell und medial zum Positiven verändert hat. Was genau?

Zum einen werden behinderte Menschen immer sichtbarer, beispielsweise in sozialen Medien. Persönlich habe ich den Eindruck, dass Kinder heutzutage anders auf mich reagieren. Ich bin 90 Zentimeter groß und fahre Rollstuhl. Das ist für Kinder total spannend und mir werden immer viele Fragen gestellt.

Früher war das manchmal wirklich anstrengend, weil Kinder in Trauben um mich herumstanden und mich mitunter ausgelacht haben. Das passiert viel seltener. Ich habe das Gefühl, dass das an den inklusiven Kitas liegt. Kinder kommen heute früher als noch vor zehn, 20 Jahren mit behinderten Kindern in Kontakt und gehen gelassener mit dem Thema Behinderung um. Das stimmt mich hoffnungsvoll.

Vielen Dank für das Gespräch, liebe Rebecca!

Hier findet ihr Rebecca Maskos:

Mehr Infos zum Buch und der Online-Lesung:

Interview: Hannah Jäger

Foto: Carolin Weinkopf

Ein Kommentar

  • Isabell sagt:

    Hey zusammen,

    ein sehr spannender und lehrreicher Beitrag zu den Themen Inklusion und Ableismus. Habe wieder viel Neues gelernt und Gedankenanstöße mitgenommen. Ein tolles Interview mit Frau Maskos! Vielen Dank!

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