Die Kölnerin Audrey Kaiser ist Mentorin für das Thema Grenzen setzen. Sie arbeitet mit ihren Klient*innen daran, für die eigenen Bedürfnisse einzustehen, People Pleasing hinter sich zu lassen und den Mut aufzubringen, unangenehme Dinge anzusprechen. Wir haben mit ihr genau über diese Themen gesprochen und sie gefragt: Woher kommt der Wunsch, es allen recht zu machen? Wie kann ich lernen, bei meinen Bedürfnissen zu bleiben? Wie bringe ich den Mut auf, unangenehme Dinge anzusprechen? Und wie schaffe ich es, im familiären Kreis Grenzen zu setzen?
Ich bin ein sehr sensibler Mensch, wodurch es für andere leicht war, diese Seite von mir für sich zu nutzen.
Audrey Kaiser: Ich setze mich für das Thema so stark ein, da ich selbst jahrelang nicht gelernt habe, Grenzen zu setzen. Ich habe auch lange nicht verstanden, was es heißt, Selbstliebe zu betreiben und Selbstakzeptanz und Selbstfürsorge zu haben. Das habe ich nie beigebracht bekommen, das Thema People Pleasing war für mich sehr groß.
Ich bin ein sehr sensibler Mensch, wodurch es für andere leicht war, diese Seite von mir für sich zu nutzen. Das meine ich gar nicht wertend, aber Personen, die genau wissen, was sie wollen, profitieren eben von Menschen, die noch nicht so in ihrer Mitte sind. Bei mir war das lange der Fall. Irgendwann habe ich mich selbst als Experiment genommen und geguckt, wie es rüberkommt, wenn ich mal „Nein“ sage. Inzwischen habe ich fast zweieinhalb Jahre Therapie hinter mir und da war das Thema Grenzen setzen sehr groß. Ich kann es inzwischen aus meinem Leben gar nicht mehr wegdenken, da ich so viel an Selbsterkenntnis gewinnen konnte.
Wenn du nicht für dich einstehst, tut es niemand.
Durch einfache Formulierungen und Bitten haben sich manche Beziehungen aufgelöst – eben solche, die von meinen mangelnden Grenzen profitiert haben. Auf der anderen Seite konnte ich sehr gesunde Beziehungen gewinnen, auf beiden Seiten. Ich konnte den anderen Personen die Erlaubnis geben, genau zu wissen und auch zu sagen, was sie wollen, ohne passiv-aggressive Argumente.
Gleichzeitig konnte ich lernen, wann meine Grenze überschritten worden ist und dass ich nicht erst explodieren muss, um jemandem mitzuteilen, dass ein Verhalten für mich verletzend war. Therapie, Coaching und Weiterbildungen haben mir hier sehr geholfen. Ein Satz ist bei mir richtig hängen geblieben: „Wenn du nicht für dich einstehst, tut es niemand.“ Den Satz habe ich erst durch Therapie und Coachings richtig verstehen und auch verkörpern können.
Man möchte es allen recht machen, aber was ist der Preis, den man dafür zahlt?
Meistens kommt das People Pleasing aus der Kindheit. Ich habe beispielsweise nie richtig lernen dürfen, dass es in Ordnung ist, auch mal keine Lust auf etwas zu haben. Da wurde bei mir oft mit emotionaler Manipulation gespielt. Wenn ich beispielsweise meine Mutter nicht umarmen wollte und sie daraufhin traurig wurde, habe ich Schuldgefühle aufgebaut.
Dadurch bin ich irgendwann in die Position verfallen, mich mehr um andere als um mein Bedürfnis zu kümmern. Mein Blick war sehr nach außen gerichtet und das ist irgendwann kollidiert. Man möchte es allen recht machen, aber was ist der Preis, den man dafür zahlt?
Beim Grenzen setzen kommt es auf zwei Schritte an: erstens, den Mut aufzubringen, die Grenze auszusprechen und zweitens, die Reaktion darauf auszuhalten.
Das ist für mich der Kern des Themas People Pleasing: Kümmere ich mich nur um andere und stelle mich hinten an? Oder kann ich entscheiden, dass ich selbst der wichtigste Mensch in meinem Leben bin, mit einem gesunden Egoismus leben und trotzdem für andere da sein – aber eben mit gewissen Konditionen, an die sich die Menschen halten müssen?
Ich habe aber auch Freundinnen, bei denen das Thema People Pleasing erst durch eine ungesunde Partnerschaft entstanden ist. Die sind in einem gesunden Elternhaus aufgewachsen, in dem ihnen beigebracht wurde, dass sie gut so sind, wie sie sind und dass es wichtig ist, die eigene Meinung zu äußern. Aber durch eine toxische Partnerschaft, in der sie das Gefühl bekommen haben, wertlos zu sein, entsteht dann eine negative Selbstabwertung, woraus dann People Pleasing resultiert.
Ja, auf jeden Fall. Beim Grenzen Setzen kommt es auf zwei Schritte an: erstens, den Mut aufzubringen, die Grenze auszusprechen und zweitens, die Reaktion darauf auszuhalten. Man muss Skills lernen, wie man Dinge anspricht und Skills dafür, wie man damit umgeht, nachdem man sein Bedürfnis ausgesprochen hat. Das hängt eng mit dem Selbstwert zusammen, inwiefern man gefestigt in sich ist und wie gut man auch unnötigen Sprüchen standhalten kann – auch in der Familie.
Weihnachten steht vor der Tür. Ich habe heute meine Therapeutin angerufen, damit wir einen Termin vor Weihnachten ausmachen, um mich auf die Gespräche und Kommentare besser vorbereiten zu können. Es ist so wichtig: Du musst dich nicht in eine Situation begeben, in der du dich unwohl fühlst. Gerade an Weihnachten darf man sich auch abgrenzen. Es kostet Energie, sich in Gespräche zu begeben, in denen die eigene Meinung nicht geteilt wird. So muss man die Feiertage nicht verbringen.
Wenn du deine Grenze ausgesprochen hast und die Person passiv-aggressiv darauf reagiert, dann hast du die Möglichkeit zu sagen: „Mir fällt gerade auf, dass das, was ich dir kommunizieren wollte, nicht richtig angekommen ist.“ Oft reagieren Menschen direkt, anstatt richtig zuzuhören. Wenn man das Gefühl hat, dass die Person gar nicht versucht, dich zu verstehen, sondern dich stattdessen in die Ecke drängt, dann kann man das Einfachste machen, was es gibt: erstmal tief durchatmen.
Dadurch kann man das Körpergefühl analysieren. Unser Körper spricht gerade in so einem Gefahrenmodus mit uns. Es ist wichtig, zu kommunizieren, was in einem vorgeht: „Ich habe den Eindruck, ich habe mich missverständlich ausgedrückt.“ Oder: „Ich glaube, dass du mir noch nicht ganz folgen kannst. Gib mir vielleicht nochmal fünf Minuten, um mich zu sammeln. Vielleicht können wir einen Weg finden, dass ich es dir anders erkläre.“ Es ist wichtig, dass man sich einen Schutz aufbaut: einen Schutz, in dem man die eigene Meinung sagen kann. Es ist egal, wenn die andere Person einfordert, es direkt zu klären. Wenn du dich in deinem Körper nicht wohl oder sicher fühlst, dann hast du die Verantwortung zu tragen, dich in Sicherheit zu begeben. Auch wenn das bedeutet, dass die andere Person es aushalten muss, dass das Gespräch für den Moment beendet ist.
Was ich jedoch nicht empfehle: ein paar Tage nach einem Streit so zu tun als wäre nichts. Diesen großen, pinken Elefanten im Raum sollte man nicht ignorieren. Man kehrt dann alles unter den Teppich, es bauscht sich auf und irgendwann gibt es die große Explosion. Man hätte eine Beziehung retten können, die dann in die Brüche geht, weil man zu oft und zu lange nicht über wichtige Themen gesprochen hat.
Ich habe auch noch einen Rat an Menschen, die Probleme damit haben, ein unangenehmes Thema anzusprechen. Und zwar, genau das anzusprechen. Einfach zu sagen: „Ich habe etwas auf dem Herzen, es ist mir aber sehr unangenehm. Ich habe Schwierigkeiten, das anzusprechen. Bitte nimm‘ es mir nicht übel, wenn ich weinen muss oder emotional werde. Es ist für mich ein wichtiges Thema und ich möchte es mit dir besprechen. Vielleicht hörst du mir einfach erstmal nur zu, ohne etwas zu sagen.“ Darauf wird jeder nette Mensch mit Verständnis reagieren. Es kann auch helfen, sich davor eine Notiz zu schreiben. Alternativ kann man sich zum Beispiel umdrehen, dann muss man die Person gar nicht anschauen, wenn es einem zu unangenehm ist.
Nur durch den Mut, immer wieder unangenehme Dinge anzusprechen, kommen wir aus unserer Komfortzone raus.
Nur durch den Mut, immer wieder unangenehme Dinge anzusprechen, kommen wir aus unserer Komfortzone raus. Wir kommen dann in eine Lernzone, da wir etwas tun, was wir vorher nie getan haben. Nachdem wir eine Grenze oder Bedürfnis ausgesprochen haben, geraten wir in die Kommunikation mit einer anderen Person. Daraufhin kommt die Wachstumsphase. Das heißt, wir machen ganz kleine Schritte. Die erste Kugel, die rollt, ist der Mut. Nur so lernen, wachsen und heilen wir. Wenn wir merken, dass es Menschen gibt, die uns nicht hören wollen, können wir auch entscheiden, einen Schlussstrich zu ziehen und uns fürs nächste Mal einen Schutzraum zu schaffen.
Fotos: Anna-Maria Langer
Layout: Kaja Paradiek
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