Kübra Gümüsay: „Eine gerechtere Zukunft wird nur kommen, wenn wir sie uns vorstellen.“

Das Jahr 2020 lief für die Autorin und Journalistin Kübra Gümüşay in vielerlei Hinsicht anders als geplant: Es begann mit der Veröffentlichung ihres Buches „Sprache und Sein“, welches in Windeseile vollkommen zurecht in die Bestsellerliste schoss, mittlerweile ist die 12. Auflage draußen. Die anstehende Lesetour musste allerdings aufgrund der Corona-Pandemie abgesagt werden. Mit ihrem Buch tritt Kübra für einen Diskurs auf Augenhöhe ein, möchte freies Sprechen ermöglichen, setzt sich dafür ein, Menschen nicht auf Kategorien zu reduzieren und thematisiert wie die Gesellschaft es schaffen kann, über Probleme zu sprechen ohne den Hass der Rechten zu nähren. Nun hat das Jahr 2020 leider sehr eindrücklich gezeigt, wie aktuell dieses Plädoyer ist – immer wieder gab es Ereignisse, bei denen man im nachfolgenden, teils hasserfüllten Diskurs unweigerlich an ihre Appelle erinnert wurde. Von dem rechtsterroristischen Anschlag in Hanau, über die Rhetorik der Corona-Leugner bis hin zum Islamistischen Terror in Frankreich und in Österreich. Wir wagen einen Jahresrückblick mit Kübra, in dem wir darüber sprechen, warum man sich an Ungerechtigkeiten nicht gewöhnen darf, warum Kontextualisieren das Gebot der Stunde ist und was ihr hinsichtlich einer besseren und gerechteren Sprache letztendlich in diesem Jahr Hoffnung gegeben hat.

femtastics: Kurz nachdem dein Buch „Sprache und Sein“ erschienen ist, wurde aufgrund der Corona-Pandemie die komplette Lesetour abgesagt – was sicherlich ein ziemliches Auf und Ab der Gefühle für dich bedeutete. Was war in dieser Zeit dein größtes Learning?

Kübra Gümüşay: Es gab ganz viele Learnings. Im ersten Moment war ich nicht sehr traurig über die abgesagte Lesetour, weil ich gar nicht wusste, was mir alles Tolles entgeht. Außerdem wäre diese direkt nach dem rechtsterroristischen Anschlag in Hanau gestartet, deshalb war ich zunächst dankbar für die – wie ich zu dem Zeitpunkt dachte – Pause. In der nachfolgenden Phase des Lockdowns, als das öffentliche Leben weitestgehend runtergefahren wurde, habe ich meine Rolle stark hinterfragt – als Autorin und als kritische Denkerin. Ich stellte mir generell die Frage, was die Rolle der Intellektuellen und kritischen Denker*innen innerhalb unserer Gesellschaft ist und welche Verantwortung sie tragen.

Kritisches Wissen und kritische Betrachtungsweisen dürfen kein Selbstzweck sein. Das Ziel muss sein, möglichst vielen Menschen damit zu helfen.

Welche Antworten hast du gefunden?

In den ersten Tagen habe ich eine Stille und Zurückhaltung wahrgenommen. Im Normalfall wäre unsere Aufgabe gewesen, zu sagen, was falsch läuft. Dafür muss man erst einmal beobachten, man sagt es also hinterher oder kritisiert on the go. Kritik lebt aber von Fehlern. Ich fragte mich: Welche Anreize gibt es um Missstände und voraussehbare Fehler zu benennen bevor sie überhaupt erst auftreten und sich verschärfen? Wird die Kritik relevanter, klarer und wichtiger, je schlechter diese Krise gemanagt wird? Das kam mir gerade in dieser Pandemie sehr zynisch vor. Eigentlich sollte die Aufgabe von Intellektuellen und kritischen Denker*innen sein, das kritische Wissen, was man produziert und reflektiert, in die Strukturen, also in die Gesellschaft hineinzuspeisen, sodass dort eine Art Korrektivfunktion erfüllt werden kann, um dann Feinjustierungen vorzunehmen – also wieder kritisch zu reflektieren. So kann eine Art Zirkulation von Wissen entstehen. Das Resultat war für mich, dass ich präventiv jetzt schon Wissen einspeisen und vorausschauend dabei helfen möchte, dass bestimmte Fehler gar nicht erst passieren.

Wie hast du das konkret umgesetzt?

Es kam zum Beispiel ein Beratungsmandat zustande, bei dem wir Studien dazu durchgeführt haben, welche Bevölkerungsgruppen in der gegenwärtigen Krise besonders vernachlässigt werden. Ich konnte aber dadurch auch einen grundsätzlich selbstkritischen Blick auf meine Arbeit und meine „Zunft“ entwickeln. Das ermöglicht mir eine neue Freiheit im Denken.

Kübra Gümüşay lebt mit ihrem Mann und ihrem Sohn in Hamburg. Credit: Kübra Gümüşay

Du hast es gerade schon angesprochen: Anfang des Jahres, am 19. Februar 2020, gab es den rechtsterroristischen Anschlag in Hanau. Es hat einen Moment gedauert, bis das BKA diesen Anschlag ganz klar rassistisch motiviert eingeordnet hat, die Klarstellung erfolgte am 31.03.2020. Auch die Diskussion rund um “rechtsradikale Einzeltäter*innen” wurde dieses Jahr wieder geführt. Medien stehen vermehrt in der Kritik, Hass und Rechtsextremismus eine Plattform bieten. Hass ist keine Meinung – aber er ist vorhanden. Ein journalistischer Leitsatz lautet: Realität muss abgebildet werden, die Frage ist, in welchem Kontext. Wie kann man Menschen mit dem vorhandenen Hass konfrontieren, sie sensibilisieren, ohne ebenfalls in die Populismusfalle abzurutschen?

In einer großen Gesellschaft wie der unseren ist die Kunst, sich darin zu üben, dass zwei oder mehr unterschiedliche Perspektiven gleichzeitig wahr sein können, keine aber die absolute Wahrheit vertritt. Wir sind auf Perspektivenvielfalt angewiesen, um uns der Komplexität der Realität zu nähern. Wir alle kennen das, weil wir ständig in beruflichen oder familiären Kontexten sowie in persönlichen Beziehungen erleben, dass zwei Wahrnehmungen gleichzeitig wahr sein können, weil Menschen aus unterschiedlichen Perspektiven wahrnehmen. Medien haben die Verantwortung diese Perspektiven zu kontextualisieren, also einzuordnen. Stattdessen wird oft aber einfach die Kamera draufgehalten – sprachlich sowie bildlich -, dabei schwingt immer ein gewisser Voyeurismus mit. Also das Ergötzen daran, dass jemand sich auf eine bestimmte Weise verhält. Ungeniert rassistisch, rücksichtlos, sexistisch, verschwörungstheoretisch. Damit werden Normen und ungeschriebene Regeln unseres Miteinanders, beispielsweise sich höflich und rücksichtsvoll zu verhalten oder sich zurückzunehmen zugunsten des Gemeinwohls, mit den Füßen getreten. Dabei bleibt es aber nicht: Der Rücksichtslosigkeit, Gewalt und Brutalität wird ungefiltert eine Plattform geboten. So sehen andere, wie man Aufmerksamkeit und Reichweite bekommen kann und den Anschein von Relevanz suggeriert. Das führt dazu, dass diese Form von Kommunikation und Diskurs stark befördert wird. So bestimmen immer mehr Menschen den Diskurs, die mit provokanten, zugespitzten, teils bodenlosen Positionen in der Öffentlichkeit zur Sprache kommen und Gehör finden dürfen.

Also lautet das Gebot der Stunde: Kontextualisieren?

Ja. Zum Beispiel Gewalt an Frauen nicht abzubilden, ohne sichtbar zu machen, dass das verwerflich beziehungsweise justiziabel ist. Viele machen es bereits so, dass sie Rufnummern angeben, unter denen Betroffene Hilfe finden können. Man hat als Medienschaffende*r die Freiheit zu berichten, aber verantwortungsbewusst. Das bedeutet, dass man sich auch mit den Folgen der Berichterstattung beschäftigt. Deswegen sollte im Falle eines Terrorattentats nicht die eigene Darstellung der/des Attentäter*in ungefiltert an die Öffentlichkeit verbreitet werden und ihr/sein Bild abgedruckt werden. Der Name sollte nicht genutzt werden, damit sie/er nicht die Aufmerksamkeit bekommt, die sie/er glaubte, zu bekommen. Hierzu gibt es aber glücklicherweise international wie auch hierzulande gute Vorbilder und es tut sich was.

Sind wir einverstanden mit der Art und Weise wie die eigene Sprache uns prägt und formt? Wollen wir uns nicht die Frage stellen, wie wir miteinander sprechen können, sodass ein konstruktiver und respektvoller Diskurs möglich wird?

Zurück zur Corona-Krise: Coronagegner oder -leugner bedienen sich zunehmend relativierender Sprache, der Populismus grassiert. Wie lässt sich dieser Trend umkehren und ein größeres Bewusstsein dafür schaffen?

Im politischen Diskurs geht es leider nicht primär darum, gute Argumente auszutauschen, um dann herauszufinden, welcher Weg der bestmögliche für die Gesamtgesellschaft wäre. Stattdessen geht es oftmals leider primär um den Kampf, durch wessen enge Brille oder Perspektive man auf die Gesellschaft schaut. Es gibt eine Vorherrschaft darum, wessen Belange und Befindlichkeiten über dem Wohlbefinden anderer stehen soll. Die Bemühung sollte eigentlich sein, einen Diskurs zu entwickeln, bei dem das Wohlbefinden möglichst aller, insbesondere ökonomisch oder sozial marginalisierter Bevölkerungsgruppen berücksichtigt wird und dahingehend Entscheidungen getroffen werden.

Im Diskurs zur Pandemie oder im Diskurs zu Schutzsuchenden in Deutschland, zu Geflüchteten, zu Integration und Migration oder zur Klimakrise wird eine entmenschlichende Sprache angewandt. Wir erleben eine sehr polarisierte Sprache, die nicht nur zur Folge hat, dass Menschen sich einem bestimmten Lager zuordnen, sondern auch, dass nicht auf eine besonnene Weise auf das gesamtgesellschaftliche Wohl geblickt wird. Auch wenn wir über gendergerechte oder antirassistische Sprache sprechen, entstehen sofort Lager und Fronten mit bestimmten Reflexen, die dazu führen, dass Menschen eine vorgefertigte Meinung haben oder sich gar nicht mehr mit dem Thema beschäftigen wollen.

Genau diese Themen greifst du auch in deinem Buch auf. Was war deine Motivation?

Ich wollte mit meinem Buch beweisen, dass man diese sehr polarisierten Themen auf sehr besonnene Weise und konstruktiv betrachten und behandeln kann. Mir geht es zum Beispiel gar nicht darum zu sagen, dass alle das Gendersternchen benutzen müssen, weil sie sonst schlechte Menschen seien. Stattdessen wollte ich die Macht der Sprache vorführen und aufzeigen. Ich stelle die Frage: Sind wir einverstanden mit der Art und Weise wie die eigene Sprache uns prägt und formt? Sind wir einverstanden mit der Art und Weise, wie unsere Wahrnehmung beeinflusst wird? Wollen wir uns nicht die Frage stellen, wie wir miteinander sprechen können, sodass ein konstruktiver und respektvoller Diskurs möglich wird?

Wir können gemeinschaftlich auf die Suche nach den bestmöglichen Lösungsansätzen gehen.

Was gibt dir hier Hoffnung?

Was dieses Jahr für mich auch sehr schön vor Augen geführt hat, ist, wie politische Verantwortungsträger*innen in der Öffentlichkeit auch gesprochen haben: nämlich mit einer gewissen Demut. Es wurden Maßnahmen beschlossen und gleichzeitig kommuniziert, dass in beispielsweise zwei Wochen noch mal geschaut werden muss, inwieweit diese sinnvoll sind. Das war eine Art öffentliches Lernen, ein Suchen, wie wir uns am besten durch diese Phase navigieren, um möglichst viele Menschenleben zu schützen. Es war eindrucksvoll zu sehen, dass sowas möglich ist – konstruktiv und besonnen über abstrakte Herausforderungen zu sprechen, die nicht ganz klar nur einem Ministerium oder einem Wirtschaftsbereich zuzuordnen sind. Wir können gemeinschaftlich auf die Suche nach den bestmöglichen Lösungsansätzen gehen.

Und die Hoffnung ist, dass dies auch bei anderen Themen möglich ist?

Ja, wobei wir leider gleichzeitig wieder erleben mussten, dass Menschen für ihr besonnenes Verhalten abgestraft wurden. Eben weil sie nicht proklamieren, die eine und einzige Antwort zu haben und genau zu wissen, was nun der richtige Weg ist. Sie haben öffentlich Fehler gemacht, die notwendig waren, und haben dann ihren Kurs beständig korrigiert. Gerade über Virolog*innen und Wissenschaftler*innen ist viel Hass und Häme hereingebrochen, obwohl sie mit größtmöglicher Transparenz gesprochen haben. Ein Learning ist deshalb leider auch, dass Demut und Perspektivbewusstsein möglich sind, unsere Diskurskultur Menschen aber dafür abstraft. Der Preis ist hoch – aktuell zu hoch.

Kübra Gümüşay ist Autorin des Bestsellers „Sprache & Sein“, sowie Initiatorin zahlreicher Kampagnen und Vereine – u.a. die Antirassismus-Kampagne #SchauHin, das feministische Bündnis #ausnahmslos und die Kampagne „Organisierte Liebe“. Foto Credit: Privat

Freiheit hat immer mit Verantwortung zu tun – und mit Verbindungen zu Menschen in dem Kontext, in dem man seine Freiheiten auslebt.

Der Begriff der Freiheit wird in der Corona-Krise ebenfalls neu verhandelt. Viele Einschränkungen sind aufgetaucht, eine für bis dato privilegierte Europäer*innen ungewöhnliche Situation. Wie steht es gerade um die Freiheit oder das Freiheitsgefühl? An welchen Punkten hast du dich in deiner Freiheit mehr eingeschränkt gefühlt als sonst?

Natürlich habe ich mich wie alle Menschen eingeschränkt gefühlt. Ich vermisse es, mit Menschen in großen Gruppen zusammen zu sein, auch physisch Verbundenheit zu spüren. Das brauche ich, um glücklich zu sein. Gleichzeitig habe ich das große Privileg, Kontakte digital pflegen zu können. Viele Bevölkerungsgruppen haben das nicht, sie brauchen den physischen Kontakt – auch, um ihrer Arbeit nachgehen zu können. Die psychische Gesundheit vieler Menschen leidet, weil sie Alltagsstrukturen brauchen, in denen gemeinschaftliches Leben gemeinsam gestaltet wird. Als Selbständige, die sehr unabhängig agieren kann, hat mich das nicht so sehr beeinträchtigt.

Aber weil du nach Freiheit fragst: Freiheit hat immer mit Verantwortung zu tun – und mit Verbindungen zu Menschen in dem Kontext, in dem man seine Freiheiten auslebt. Oft wird Freiheit mit Hedonismus verwechselt, also dass man sich das Maximale herausnimmt, was man sich herausnehmen kann innerhalb des rechtlichen Rahmens. Es geht dann um das maximale Ausbeuten dessen, was reguliert ist. Und was nicht reguliert ist, wird ausgebeutet, einfach weil man es kann. Es geht um das sich nehmen, weil man darf. Das Ausnutzen, weil man darf. Und man darf sehr vieles in dieser Gesellschaft: Man kann extrem unfreundlich, hämisch und hasserfüllt sein, entmenschlichend sprechen. Diese „Freiheit“ haben wir. Aber: Ist das wirklich das, wonach wir streben? Ist das die Freiheit, die über allen anderen Freiheiten und Rechten steht? Ist das die Freiheit, die unser Zusammenleben und unsere Demokratie am Leben hält? Sollten wir nicht lieber darüber sprechen, nach welchen Idealen wir streben wollen?

Ich wünschte mir, dass an viel mehr Stellen unserer Gesellschaft geholfen werden würde, ohne dass um Hilfe gefragt werden muss. Dass gesehen wird, ohne dass um Sichtbarkeit gebettelt wird. Dass gehört wird, ohne dass jemand schreien muss.

Das ist der viel wichtigere Diskurs, den wir führen sollten.

Es treffen gerade zwei Welten aufeinander: Menschen, für die es nicht Verzicht ist, sich einzuschränken und ihr Handeln anzupassen, sodass es anderen Menschen besser geht, weil sie nicht glauben, einen Anspruch auf eine bestimmte Verhaltensweise zu haben. Und Menschen, die jede Veränderung ihrer Lebensweise zugunsten des Gemeinwohls als Verzicht empfinden, weil sie glauben, ihre ganz persönliche, individuelle Freiheit stünde über allem anderen. Das ist letztlich neoliberales Denken, was mit einem sozialen, gemeinschaftlichen Denken kollidiert. Persönliche Freiheiten sollten so genutzt werden, dass sie auch dem Gemeinwohl nutzen – dann ist es auch kein Verzicht, sondern eine Rücksichtnahme. Ich wünschte mir, dass an viel mehr Stellen unserer Gesellschaft geholfen werden würde, ohne dass um Hilfe gefragt werden muss. Dass gesehen wird, ohne dass um Sichtbarkeit gebettelt wird. Dass gehört wird, ohne dass jemand schreien muss.

Eigentlich alles Dinge, die selbstverständlich sein sollten, es aber leider nicht sind. Der Islamistische Terroranschlag am 2. November in Wien hat erneut gezeigt, wie Muslim*innen reflexhaft in eine Rechtfertigungsrolle gedrängt werden bzw. sich drängen lassen und den Drang verspüren, zu sagen: Das ist nicht mein Islam. Du thematisierst das ebenfalls in deinem Buch. Wie hast du es geschafft, dich aus dieser unfreiwilligen Rechtfertigungsrolle zu befreien?

In diesen Momenten fordern bestimmte Menschen eine Reaktion von dir, allerdings zu ihren Bedingungen. Du sollst dich von etwas distanzieren, womit du nichts zu tun hast, wofür du nicht verantwortlich bist. Nicht zu reagieren auf Menschen, die dich indirekt beschuldigen, ist schwierig. Oft folgt ein Schweigen und lenkt ab von dem, was wir vielleicht wirklich tun wollten in diesem Moment: unser Beileid ausdrücken. Es ist nicht einfach, aber notwendig in dem Getöse herauszufinden, was die eigene, eigentliche Reaktion auf diese furchtbaren Anschläge wäre – nämlich Mitgefühl, Trauer und Entsetzen. Das Bedürfnis, so etwas zu verhindern und zu überlegen, was man tun kann, damit nie wieder Menschen solche Gewalt erfahren müssen. Das zu tun, was gefordert wird, aber auch angesichts der Forderungen nichts zu tun: Beide Reaktionen geben diesen destruktiven Forderungen Deutungshoheit.

Wenn ein Mensch das Empfinden hat, dass eine Struktur ungerecht ist, dann bedeutet dies, dass sich dieser Mensch eine andere Struktur vorstellen kann und das ist machtvoll.

2020 war wieder ein Jahr voller Ungerechtigkeiten: Sollte man sich an Ungerechtigkeiten gewöhnen oder ganz bewusst und klar sich nicht dran gewöhnen? Und wenn nein, wie kann das gelingen?

Die Frage ist wichtig und legitim. Es ist ein Balanceakt zwischen Entsetzen und ins Handeln kommen. Viele Menschen haben das Gefühl, um etwas durchstehen zu können, müssen sie sich daran gewöhnen. Das sollte man jedoch nicht tun, Ungerechtigkeiten nicht normalisieren. Aber du kannst nicht permanent Schmerz fühlen, denn das wiederum führt zu Ohnmacht und zu einer Lethargie. Es ist okay aus Selbstschutz bestimmte Dinge nicht zu konsumieren, besonders Dinge, die man nicht selbst in der Hand hat. Das ist nicht zu verwechseln mit Ignoranz oder dem bewussten Ausblenden gesellschaftlicher Missstände, um sein eigenes Verhalten aus Bequemlichkeit nicht verändern zu müssen. Wenn man ein Mensch ist, der sich bemüht, der lernen und verantwortungsbewusst leben möchte, erkennt man, dass alles ein Prozess ist, den man Schritt für Schritt gehen muss. Das Aufladen des Schmerzes der gesamten Welt bringt weder der Welt, noch den tatsächlich Leidenden, noch einem selbst was. Sie bringt keine Änderung hervor.

Letztlich aber ist das Gefühl des sich nicht Gewöhnens ein so machtvolles Gefühl, denn es bedeutet, dass man die Strukturen, innerhalb derer man sich bewegt, nicht für unabänderlich hält, sondern sich ihrer Veränderlichkeit bewusst ist. Wenn ein Mensch das Empfinden hat, dass eine Struktur ungerecht ist, dann bedeutet dies, dass sich dieser Mensch eine andere Struktur vorstellen kann und allein das ist machtvoll. Das ist der Moment, aus dem aus einem Schock oder einer Ohnmacht heraus eine Handlungsmacht entstehen kann. Eine Zukunft, die gerechter, inklusiver und friedvoller ist, wird nicht einfach kommen, wenn wir ausharren oder Schlimmeres abwenden, sondern nur, wenn wir sie uns vorstellen und darauf hinarbeiten. Wir können uns nicht nur darüber empören, was schlecht läuft, sondern müssen uns auch damit beschäftigen, wie wir zu einer besseren Zukunft kommen.

Mich inspiriert ein Zitat von einem der Chefberater des US-Präsidenten George W. Bush, der von „reality based communities“ spricht. Im Interview mit dem Investigativreporter der New York Times, Ron Suskind, spricht er darüber, wer Realitäten erschafft. Er sagt: „Wenn wir (die US Regierung) handeln, schaffen wir unsere eigene Realität und ihr, ihr analysiert diese. Und während ihr analysiert, schaffen wir andere, neue Realitäten – und auch diese werdet ihr analysieren. So wird sich die Welt ordnen: Wir sind die Handelnden der Geschichte und euch anderen bleibt nichts anderes übrig, als zu analysieren, was wir tun.“ Damit führt er uns ganz klar die Machtverhältnisse unserer Gesellschaft vor Augen, nämlich, wer Realitäten schafft und wer darauf reagiert. Das ist für mich eine große Motivation, mich nicht damit zu begnügen, zu analysieren, was falsch läuft, sondern mich auch damit zu beschäftigen, andere Realitäten zu schaffen.

Ein sehr wichtiger Impuls. Zum Schluss ein Ausblick auf das kommende Jahr 2021. Worauf freust du dich in 2021 besonders?

Ich freue mich auf Orte des gemeinsamen Denkens, an denen man sich ausprobieren kann. Auf größere Gruppen von Menschen, in denen man lustvoll diskutieren und nachdenken kann. Und sich dabei in die Augen schauen – das fehlt mir sehr.

Möge all das bald wieder möglich sein. Wir danken dir von Herzen für das Gespräch, liebe Kübra!

Hier findet ihr Kübra Gümüşay:

Teaserbild: Bettina Theuerkauf

3 Kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert