Leben im Schatten der Sucht: Cornelia Hoppe über ihren Weg aus der Co-Abhängigkeit

Es ist ein schambesetztes, tabuisiertes Thema: Alkoholabhängigkeit und ihre Auswirkung auf nahestehende Personen. Obwohl in Deutschland rund 1,5 Millionen Menschen als alkoholabhängig gelten[1] und man davon ausgeht, dass auf jede abhängige Person drei bis fünf Angehörige, Co-Abhängige kommen, wird viel zu wenig darüber gesprochen, zu wenig aufgeklärt und zu wenig Hilfe angeboten.

In ihrem Buch „Säuferkind“, veröffentlicht am 27. September 2024, spricht Cornelia Hoppe über ihre Erfahrungen als Kind alkoholkranker Eltern und später als Ehefrau eines alkoholabhängigen Mannes. Sie ist in Hamburg St. Pauli in Armut aufgewachsen und kümmerte sich um ihre suchtkranken Eltern. Später heiratet sie einen erfolgreichen Banker, der sich mit der Zeit ebenfalls als abhängig entpuppt. Nach langen Jahren des stillen Leidens und der Scham befreit sie sich zum Schutz ihrer eigenen zwei Kinder aus der Partnerschaft und schafft es, ein selbstbestimmtes Leben zu führen.

Inzwischen sind ihre Kinder erwachsen und Cornelia arbeitet selbstständig als Goldschmiedin. Cornelia Hoppe benutzt ein Pseudonym, um ihre Kinder zu schützen. Wir durften mit ihr über das Thema Co-Abhängigkeit und den Umgang mit einer Suchterkrankung in der Familie und in einer Partnerschaft sprechen. Ihre Geschichte erschüttert, sie zeigt aber auch, dass es einen Weg daraus gibt und macht Mut, das eigene Leben in die Hand zu nehmen.

Was war der Auslöser, der dazu geführt hat, dass du deine Geschichte in einem Buch teilen willst?

Die Idee war schon länger da, denn ich trage diese Geschichte ja seit der Kindheit mit mir rum. Ich habe immer wieder Bücher gelesen oder Filme gesehen und mir gedacht, dass ich selbst so viel zu erzählen habe. Ich habe mit meinem jetzigen Lebensgefährten viel über meine Vergangenheit gesprochen. Er meinte irgendwann scherzhaft, dass er es nicht mehr hören kann und dass er jemanden kenne, der vielleicht bereit wäre, mich bei einem Buch dazu zu unterstützen. Vor knapp einem Jahr erhielt ich den Zuschlag des Verlags. Ich habe meine Geschichte dann zusammen mit meinem Ghostwriter zu Papier gebracht.

Insbesondere für meine Eltern empfinde ich viel Mitgefühl.

Mir war es wichtig, meine Geschichte zu erzählen, um eine Botschaft zu vermitteln: Man kann es rausschaffen. Es ist schwer, man trägt einiges mit sich, aber man muss darüber sprechen. Ich möchte mit meinem Buch niemanden anklagen, denn insbesondere für meine Eltern empfinde ich viel Mitgefühl. Mein Ziel ist es, meine Erfahrungen zu teilen, um zu zeigen, dass man sich trotz einer schwierigen Kindheit aus diesem Abgrund befreien und ein glückliches Leben führen kann. Bei mir war das zwei Mal der Fall: Erst als Kind meiner alkoholkranken Eltern und anschließend als Ehefrau und Mutter mit einem alkoholabhängigen Mann*. Es hat Zeit gebraucht, aber ich habe es geschafft.

Was bedeutet Co-Abhängigkeit im Kontext einer Suchterkrankung für dich? Du selbst hast Co-Abhängigkeit als Kind und als Erwachsene erlebt. Was sind die Unterschiede?

Auf jede alkoholkranke Person kommen durchschnittlich drei bis fünf Angehörige, die sich in einer Co-Abhängigkeit befinden. Das geht mit einem Gefühl von Scham und Verzweiflung einher, gleichzeitig aber auch mit einer Hoffnung, dass es besser wird. Co-Abhängige versuchen, den Schein zu wahren, damit nach außen niemand von der Sucht mitbekommt. Damit schützen sie die süchtige Person und sind selbst gefangen in einem Netz aus Lügen, Verleugnung und Vertuschen.

Als Kind alkoholabhängiger Eltern ist es besonders schwer, da die Abhängigkeit von den eigenen Eltern natürlich ein ganz besonderes Ausmaß hat. Da kommen viele Faktoren zusammen: Mobbing und Ausgrenzung in der Schule, die Angst vor dem Jugendamt und den Behörden und natürlich die vertauschten Eltern-Kind-Rollen – in der man als Kind gar nicht sein sollte.

Co-Abhängige versuchen, den Schein zu wahren, damit nach außen niemand von der Sucht mitbekommt

Wie war das damals als Kind von suchtkranken Eltern?

Ich habe als Kind den ganzen Haushalt geschmissen, mir mein Essen selbst gemacht und mich immer wieder um meine Eltern kümmern müssen. Die Verhältnisse, in denen ich aufgewachsen bin, waren absolut schwierig. Armut, beide Eltern alkoholabhängig und dazu eine Umgebung in St. Pauli, die alles andere als kindgerecht war. Und dennoch war die Vorstellung, nicht bei ihnen zu sein, schwieriger, als da zu bleiben.

Kein Kind möchte aus dem Elternhaus genommen werden, egal, was stattfindet. Kinder werden ihre Eltern immer lieben und daran festhalten. Die Vorstellung, in einem Heim aufzuwachsen ist genauso beängstigend wie der Gedanke, die suchtkranken Eltern allein zu lassen. Als Erwachsene ist man nicht in demselben Maße abhängig, man hat eine Wahl. Das heißt nicht, dass es einfach ist. Oftmals besteht eine emotionale und – so war es auch in meinem Fall – eine finanzielle Abhängigkeit, die es erschwert, zu gehen.

Kinder werden ihre Eltern immer lieben und daran festhalten.

Im Erwachsenenalter hattest du einen alkoholabhängigen Partner. In deinem Buch beschreibst du, dass du als Teil des Systems die Sucht mit aufrechterhalten hast, indem du ihn geschützt hast. Zugleich ist es keine Option, die Sucht des Partners oder der Partnerin zu bekämpfen – das kann nur die Person selbst. Was würdest du anderen raten, was sie in einer solchen Lage tun können?

Es ist wichtig, sich jemandem anzuvertrauen, sei es in einer Selbsthilfegruppe oder bei Freund*innen. Ich wusste damals, dass ich Konsequenzen ziehen muss, sobald ich mich jemandem öffne. Für mich war klar: Sobald ein Grad erreicht ist, an dem ich es nicht mehr ertrage, werde ich darüber sprechen und dann auch die nötigen Veränderungen einleiten.

Ich habe mich damals zunächst einer Freundin gegenüber anvertraut, die zwar schockiert war, zugleich aber auch gesagt hat, dass sie es geahnt hat. Sie hat mich ermutigt, etwas zu machen.

Und diesen Rat hast du angenommen?

Ja, Schritt für Schritt. Durch das Öffnen konnte ich die Schwäche, die ich in mir gespürt habe, in Stärke umwandeln. Am Ende sind es nicht meine Schwächen, sondern die meines Partners, und trotzdem sitzt man – vor allem mit Kindern – mit im Boot. Es war ein schwieriger Weg der Trennung und Scheidung, aber ich wusste, dass ich am Ende frei und selbstbestimmt mein Leben in die Hand nehmen kann und nicht ständig in Angst leben möchte.

Ich habe mir endlich erlauben können, dass es nicht um ihn geht, sondern um mich – und natürlich auch um die Kinder. Es war klar, dass ich für einen so großen Schritt viel Kraft brauche, um mir etwas Eigenes aufzubauen. Ich konnte nicht länger warten.

Ich habe gespürt, dass es jetzt genug war mit den Übergriffen.

Für Außenstehende ist es manchmal schwer nachvollziehbar, wie man in eine solche Lage überhaupt kommen kann. Was antwortest du darauf?

Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass er die Warnzeichen anfangs sehr gut verstecken konnte. Durch meine familiäre Prägung bin ich unterbewusst wahrscheinlich mehr darauf angesprungen, aber zunächst einmal war da ein charmanter Mann*, den ich gut fand. Mit der Zeit hat es sich leider anders entwickelt, aber dann ist die Abhängigkeit oft schon zu groß.

Es gibt auch Fälle, in denen keine finanzielle Abhängigkeit besteht, und es den Betroffenen dennoch jahrelang nicht gelingt, sich aus der Situation zu befreien. Eine Freundin von mir ist Anwältin und betreute eine Frau*, die finanziell unabhängig war und dennoch häusliche Gewalt hinnahm. Bei ihr war der entscheidende Moment, an dem sie etwas geändert hat, erst, als ihre Tochter einen Vorfall mitbekommen hat. Die eigenen Grenzen verschieben sich mit der Zeit und erst wenn eine hohe Schmerzgrenze erreicht wurde, schafft man den Ausstieg – das ist leider häufig so. Bei mir war es ein Moment, in dem mein Ex-Mann aus einer nichtigen Ursache heraus Lebensmittel an die Wand warf, vor den Kindern. In diesem Moment habe ich gespürt, dass es jetzt genug war mit den Übergriffen.

Oftmals hört man über Jahre dieselben Versprechen, dass sich etwas ändert, aber das tut es nicht.

Gibt es aus einer Sicht eine realistische Chance auf eine funktionierende, gesunde Partnerschaft mit einem Menschen, der alkoholabhängig ist?

Aus meiner Erfahrung würde ich sagen, dass es dafür einen wirklich harten Cut braucht, der eine große Veränderung mit sich bringt. Eventuell muss man sich übergangsweise trennen, damit der Verursacher, die Person mit Suchterkrankung, an sich arbeiten kann. Leider, so nehme ich an, gelingt das nur in den wenigsten Fällen. Oftmals hört man über Jahre dieselben Versprechen, dass sich etwas ändert, aber das tut es nicht. Ich denke, die suchterkrankte Person macht sich dann selbst etwas vor und findet immer wieder Ausreden für sich selbst. Da Alkoholgenuss gesellschaftlich so normalisiert ist, findet man immer wieder gute Gründe, das Trinken vor sich selbst zu rechtfertigen. Das betrifft alle Gesellschaftsschichten.

Du schreibst in deinem Buch, dass Suchterkrankungen in der Familie ein Public Health Problem sind. Welche gesellschaftlichen Maßnahmen wären aus deiner Sicht wichtig?

Mir hätte es geholfen, von ähnlichen Erlebnissen zu hören. Ich hätte mir Verbündete gewünscht. Generell halte ich es für wichtig, dass Institutionen und erziehende Personen ihren Blick für solche Situationen schulen. Erwachsene müssen hier die Brücke bauen, denn ich hätte als Kind auch niemals ausgesprochen, dass meine Eltern süchtig sind.

Hier sollten Lehrpersonen schildern, was sie beobachten und welche Schlussfolgerung sie daraus ziehen, sodass der Damm bricht und das Kind gegebenenfalls nur noch nicken muss. Dann sollte Hilfe angeboten werden, ohne dass direkt das Jugendamt eingeschaltet wird – sofern das noch nicht notwendig ist. Man kann schauen, wie man das Kind so unterstützen kann, dass es regelmäßig Mahlzeiten erhält, pünktlich zur Schule erscheinen kann und die nötigsten Ressourcen zur Verfügung gestellt bekommt.

Als Kind hätte ich mir gewünscht, dass sich einfach mal jemand wirklich kümmert.

Was hättest du als Kind gebraucht?

Als Kind hätte ich mir gewünscht, dass sich einfach mal jemand wirklich kümmert. Es wäre schön gewesen, wenn jemand eine Art Patenschaft übernommen hätte, mich ab und an mal rausgeholt und mir vor allem Mitgefühl entgegengebracht hätte.

Stattdessen hat häufig das Verständnis gefehlt. Eine Lehrerin hat mich mal vor der Klasse diffamiert, ich könne doch nicht den ganzen Winter in Gummistiefeln herumlaufen. Als Kind war ich nicht schlagfertig, sondern nur beschämt. Aus heutiger Sicht denke ich: Es wäre schön gewesen, mal zu überlegen, woran es liegen könne, dass ich nicht, wie alle anderen, Fellschuhe trage.

Später, mit 16, bin ich eine Beziehung mit einem meiner Lehrer eingegangen, der mir Verständnis entgegengebracht hat. Das mag erstmal komisch klingen, für mich war es aber die Chance, den Absprung aus dem Elternhaus zu kriegen. Als Teenager hatte ich das Gefühl, niemals einen Freund haben zu können, da ich niemandem hätte zeigen können, in welchen Verhältnissen ich lebe. Es hat jemanden gebraucht, der älter ist, der darübersteht und mir eine andere Perspektive aufzeigt, nämlich, dass ich nichts für die Familie kann, in die ich geboren wurde.

Meine Vergangenheit hat mich stark gemacht.

Was würdest du aus heutiger Sicht deinem jüngeren Ich gerne sagen? Und inwiefern beeinflusst deine Vergangenheit dich heute noch?

Ich würde meinem jüngeren Ich gerne den Mut geben, schlagfertiger zu sein und ihr erlauben, sich zu öffnen. Das mit dem Vertrauen ist aber so eine Sache – es fehlt, genauso wie das Selbstvertrauen, das man nicht mitbekommen hat.

Heute kann ich sagen, dass es ein Teil von mir ist, der zu mir gehört und den ich annehmen kann. Meine Vergangenheit hat mich stark gemacht. Es tut gut, endlich über alles zu sprechen, dass Menschen nachfragen und interessiert sind. Ich habe gelesen, dass etwa ein Drittel der Betroffenen es aus solchen Verhältnissen rausschafft. Ich bin dankbar, dazu zu gehören und mit einer gewissen Resilienz aus dem Ganzen gegangen zu sein. Aber was ist mit den anderen zwei Dritteln? Der Gedanke ist tragisch und nimmt mich mit.

Es mag sich zwar so anfühlen, aber man ist nicht dazu verdammt, zu schweigen.

Hast du abschließend noch einen Rat, den du Menschen, die sich in der Co-Abhängigkeit befinden, mitgeben möchtest?

Es mag sich zwar so anfühlen, aber man ist nicht dazu verdammt, zu schweigen. Man darf sich Menschen anvertrauen, man muss die Situation nicht als das eigene Schicksal hinnehmen, sondern kann es selbst in die Hand nehmen. Die alkoholabhängige Person wird sich nicht ändern, wenn man die Spielchen mitspielt, es wird eher immer schlimmer. Es hilft, sich auszutauschen und Geschichten anderer zu hören, um zu merken, dass man nicht allein ist. Genau deswegen habe ich mein Buch geschrieben und hoffe, dass es möglichst viele Menschen erreicht, ihnen Mut macht und einen Ausweg aufzeigt.

[1] https://www.tagesschau.de/inland/gesellschaft/alkoholsucht-100.html

Mehr zu Cornelia Hoppes Vergangenheit, ihrer Kindheit in St. Pauli mit alkoholkranken Eltern sowie ihrem Weg aus der Ehe mit einem alkoholabhängigen Mann könnt ihr in ihrem Buch „Säuferkind: Mein Leben als Co-Abhängige und wie ich trotzdem glücklich wurde“ nachlesen. Ihr findet es überall, wo es Bücher gibt, oder online.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert