Wir alle grübeln mal, machen uns Sorgen vor einem wichtigen Termin oder fühlen uns vor einer Verabredung unsicher. Aber was, wenn wir dieses Gedankenkarussell gar nicht mehr gestoppt bekommen? Dann spricht man von dem sogenannten „Overthinking“. Wir haben über das Thema mit Dr. Kirsten Schlömer gesprochen. Sie ist promovierte Rechtsanwältin und war über zehn Jahre in Großkanzleien tätig – bis sie gemerkt hat, dass da noch mehr ist, wofür sie brennt. Heute coacht sie Menschen im beruflichen, privaten und gesundheitlichen Bereich und hilft ihnen dabei, mehr Lebensqualität, einen stressfreieren Alltag, mehr Zufriedenheit und eben weniger „Overthinking“ zu erlangen.
Overthinking ist das übermäßige Nachdenken sowie Bewerten.
Overthinking ist eine Verhaltensweise und ist allgemein gesprochen das übermäßige Nachdenken sowie Bewerten. Inhaltlich kann es sich um alles mögliche drehen: Ängste, Sorgen, Schuldgefühle, Selbstzweifel. Die Anlässe können bereits vergangen, aktuell oder zukünftig sein. Overthinking führt meist nicht zu einer Lösung. Es ist eine Illusion, dass das ständige Nachdenken einen weiterbringt, man wird aber eher im Handeln gehemmt.
Dabei hilft es, sich einige Fragen zu stellen, zum Beispiel: Mache ich mir oft Gedanken über Dinge, die ich nicht kontrollieren kann? Kann ich schwer loslassen? Habe ich Probleme, mich zu entspannen? Kann ich Momente noch im Hier und Jetzt genießen? Bin ich gestresst oder ängstlich? Kann ich nur schwer Entscheidungen treffen? Und natürlich: Merke ich selbst, dass meine Gedanken erdrückend und dominierend sind?
Es ist eine Illusion, dass das ständige Nachdenken einen weiterbringt, man wird aber eher im Handeln gehemmt.
Generell sind die Ursachen von Overthinking sehr verschieden. Ob es beim Overthinking und mit dem Umgang von Grübelspiralen geschlechtsspezifische Unterschiede gibt, wurde bisher nicht wissenschaftlich belegt. Jedoch lässt sich sagen, dass sehr intelligente Menschen eher davon betroffen sind. Zudem trifft es häufig auf Perfektionist*innen, harmoniebedürftige und unsichere Menschen zu. Das sind einzelne Charakterzüge, die gepaart ein noch höheres Potenzial haben, zum Overthinking zu führen.
Zu den Ursachen gehören sonst negative Erfahrungen in der Vergangenheit, traumatische Ereignisse, Ängste, Zukunftssorgen, ein schwaches Selbstwertgefühl und generelle Unsicherheiten. Ich sehe das als eine Art Bündel an möglichen Faktoren. Die Gene können zwar einen Hang zu Ängsten mit sich bringen, jedoch dürften Gene im Vergleich zu Umweltfaktoren und persönlichen Glaubenssätze insgesamt eher eine untergeordnete Rolle spielen.
Gerade Themen im Job führen oft zum Overthinking. Wenn man beispielsweise eine Präsentation halten muss und sie gar nicht fertigstellen kann, da das Overthinking einem im Weg steht. Oder in einem Meeting, wenn man mal eine Antwort nicht weiß und sofort katastrophisiert, was jetzt die anderen über einen denken. Generell geht es oft um zwischenmenschliche Situationen. Viele Menschen sind offen für neue Bekanntschaften, ziehen aber trotzdem vor einem Treffen zurück, aus der Angst, dass die andere Person sie nicht mögen könnte.
Overthinking führt zu Dauerstress. Chronischer Stress ist auf lange Sicht gesundheitsgefährdend.
Overthinking führt zu Dauerstress. Chronischer Stress ist auf lange Sicht gesundheitsgefährdend. Es fängt meist an mit Symptomen wie Schlafproblemen, die zu Leistungs- und Konzentrationsabfall führen. Man ist verstimmt und gereizter. Emotional entstehen starke Schuldgefühle bis hin zu Depressionen, Angstzuständen oder Burnout. Dazu kommen körperliche Symptome wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes, Magen-Darm-Beschwerden oder Spannungskopfschmerzen. Je länger und je intensiver der Stress anhält, desto größer sind die Auswirkungen. Da wundert es nicht, dass Stress eine der Hauptursachen für Krankheiten in unserer westlichen Welt ist.
Dafür schauen wir zurück auf unsere Vorfahren: Stress sicherte ihnen das Überleben. Bestimmte Reize signalisierten eine Gefahr, beispielsweise einen Angriff durch ein gefährliches Tier. Auf entsprechende Reize folgte eine Stressreaktion. Der Körper kam dann sofort in die Aktivierungsphase, es wurden Stresshormone ausgeschüttet, um leistungsfähiger zu sein und in der Handlungsphase reagieren zu können – in der Regel mit Flucht oder Kampf. Nach der Handlung schaltete der Körper dann in der Entspannungsphase wieder in den Normalzustand zurück.
Beim Overthinking haben wir auch einen Auslöser im Außen, beispielsweise einen Kommentar des Chefs. Der innere Stressor kommt dann durch die eigenen Glaubenssätze und die individuelle Bewertung hinzu. Am Ende steht die Reaktion und diese ist nur gedanklich. Wir haben also heutzutage andere Stressoren und andere Reaktionen, aber das Stressempfinden ist gleichgeblieben. Beim Overthinking bleiben wir anhaltend in der Stressschleife und kommen nicht mehr in die Entspannungsphase. So entsteht der chronische Stress.
Beim Overthinking bleiben wir anhaltend in der Stressschleife und kommen nicht mehr in die Entspannungsphase.
Overthinking ist etwas, was sich in unserem Kopf abspielt. Die Summe unserer Gedanken beeinflusst unser Verhalten, unsere Gefühle und unsere Stimmung. Man muss sich vor Augen führen, dass die Gedanken beim Overthinking nicht objektiv wahr sind, sondern nur eine persönliche Interpretation der Realität. Diese wiederum beruht auf Erfahrungen, Erwartungen, Überzeugungen und Emotionen. Wenn man sich das bewusst gemacht hat, kann man mit Strategien beginnen.
Das Beste ist es, die Situation kurz zu verlassen – einmal an die frische Luft, einmal auf Toilette. Das geht aber nicht immer. Im Rahmen der Notfallstrategien ist es dann sinnvoll, sich auf das Hier und Jetzt zu fokussieren. Dafür gibt es verschiedene Techniken. Gerne empfehle ich hierbei die sogenannte „Stopp-Technik“, bei der man leise oder laut das Wort „Stopp“ sagt. Damit durchbricht man aktiv den Gedankenprozess und konzentriert sich auf das Wort „Stopp“. Außerdem kann man in Akutsituationen Atemtechniken anwenden. Man sollte versuchen, in eine Bauchatmung zu kommen. Hierfür ist ein Vierer-Rhythmus sinnvoll (einatmen und bis vier zählen, Pause und bis vier zählen, ausatmen und bis vier zählen, Pause und bis vier zählen). Wenn einen das überfordert, kann man auch einfach etwas länger aus- als einatmen. Dadurch wird der Geist beruhigt. Wenn man die Situation, in der man steckt, nicht verlassen kann, kann man die fünf Sinne ansprechen.
In Gedanken überlegt man sich: Was kann ich sehen, was kann ich fühlen, was kann ich hören, riechen oder schmecken? So lenkt man den Geist wieder ab. Durch körperliche Aktivität wie beispielsweise das Wackeln mit dem Zeh oder ein leichtes Kneifen in den Unterarm setzt man ebenfalls einen anderen Reiz.
Das Overthinking ist eine erlernte Verhaltensweise, die sich im Laufe der Zeit entwickelt. Das heißt aber zum Glück auch, dass wir es uns wieder abtrainieren können. Man kann sich das ein bisschen vorstellen wie ein Muskeltraining. Man geht zwei Schritte vor, einen zurück – das Wichtigste ist es, dranzubleiben.
Dafür muss ich allerdings zunächst herausfinden, was mich stresst. Erstmal muss ich im Außen schauen, welche Reize mich triggern: Ist es der Chef? Ist es eine Präsentation? Ist es ein Date? Man kann dann einen Gedanken-Wahrheit-Check machen. Dafür schreibt man sich einmal seine eigenen Gedanken auf und nimmt einen Perspektivwechsel vor. Man guckt mit Abstand auf die eigenen Gedanken und fragt sich: Ist das wahr? Welche alternative Denkweise kann ich dem gegenüberstellen? Das Ganze knüpft an Glaubenssatzarbeit an: Stressoren identifizieren, Glaubenssätze erkennen und diese umschreiben.
Ebenfalls hilfreich ist ein gutes Stressmanagement. Wenn man die Situation für sich schon erkannt hat, kann man die 4A-Formel nutzen: Avoid, Alter, Accept, Adapt. Dabei gilt es, negativen Stress zu vermeiden, das zu verändern, was möglich ist, das zu akzeptieren, was man nicht ändern kann und zu lernen, mit stressigen Situationen umzugehen.
Ein weiterer wesentlicher Aspekt ist es, das eigene Mindset mit den blockierenden Gedanken und Glaubenssätzen umzulenken auf das, was gut ist. Dafür empfehle ich das Journaling, bei dem man sich notieren kann: Was lief heute gut, wofür bin ich dankbar, was habe ich schon geschafft, wie habe ich meine Komfortzone verlassen? Es ist eine Art Training, das positive Denken zu fördern. Damit einher gehen auch die Themen Achtsamkeit, Wertschätzung und Selbstfürsorge. Sich kleine Inseln zu schaffen, um die eigenen Bedürfnisse zu erfüllen, ist wichtig. Oftmals vernachlässigen wir genau die Dinge, die uns guttun.
Sich kleine Inseln zu schaffen, um die eigenen Bedürfnisse zu erfüllen, ist wichtig. Oftmals vernachlässigen wir genau die Dinge, die uns guttun.
Sobald ich merke, dass ich selbst nicht weiterkomme, sollte ich mir Hilfe suchen. Man kann selbst den Finger schlecht in die Wunde legen. Manchmal helfen schon ein paar Fragen durch einen Dritten, um das eigene Konstrukt zurechtzurücken. Es kann einem eigentlich immer nur Positives bringen, wenn man sich um sich kümmert.
Sobald ich merke, dass ich selbst nicht weiterkomme, sollte ich mir Hilfe suchen.
Die gute Nachricht ist: Overthinking ist nur eine Verhaltensweise, du kannst sie ändern – und es lohnt sich.
Aufmacherbild: Adobe Stock
Foto Dr. Kirsten Schlömer: Verena Reinke
Ein Kommentar
Ein toll geführtes Interview zum Thema “Overthinking”. Frau Dr.Kirsten Schlömer hat den Themenkomplex sehr fundiert, professionell und gleichzeitig verständlich dargestellt. Mit vielen Anregungen zum Überdenken und Verändern der persönlichen Situation ist das ein sehr wertvoller Beitrag:MEGA!