Stress, lass nach: Drei Tage „Less Stress Retreat“ – ein Selbstversuch

Achtsamkeit, Spazierengehen, zur Ruhe kommen: Ein Stress Retreat verspricht oftmals Menschen dabei zu helfen, einfach mal loszulassen und den Problemen des Alltags zu entkommen. Aber bringt ein Wochenende Auszeit auch langfristig etwas? femtastics Autorin Juliane Baxmann hat an einem “Less-Stress-Retreat” teilgenommen und berichtet, wie es ihr ergangen ist.

Ein Mensch hat rund 60.000 Gedanken am Tag und diese können uns manchmal ganz schön in den Wahnsinn treiben. Zwischen „Ich habe alles im Griff“ und „Ich weiß nicht, wo oben und unten ist“, befindet sich oftmals nur ein schmaler Grad.

Stress und ich führen so etwas wie eine toxische Beziehung.

Stress und ich führen so etwas wie eine toxische Beziehung. Ich forciere und brauche, aber ich hasse ihn auch. Er treibt mich an und knockt mich vollkommen aus. Ich rede über ihn, aber verdränge ihn auch. Und ich musste mir eingestehen, dass ich es irgendwie genieße, in meinem Umfeld zu kommunizieren, wie gestresst ich gerade bin.

Es war also wirklich Zeit für einen Reality-Check – und wo könnte der besser stattfinden als auf einem idyllischen Gutshof an der Ostsee? Auf „Gut Damp“, wo die Luft nach Salzwasser und das Ambiente nach Gelassenheit duftet, habe ich mich auf das “Less Stress Retreat” von Stressmanagement-Trainerin Sue Fengler eingelassen. Eine Reise, die irgendwo zwischen mentaler Wellness und Wirklichkeit pendelte.

Das Anti-Stress-Retreat fand auf „Gut Damp“ in Schleswig-Holstein statt.


Das dreitägige Retreat beinhaltete nicht nur Achtsamkeitsübungen am Morgen und meditative Spaziergänge. Es war eine Reise in die Tiefen des eigenen Stress-Kosmos. Sue Fengler, meiner Ansicht nach Guru der Gelassenheit, führte die kleine Gruppe gekonnt durch Themen wie People Pleasing, Mental Load und achtsame Routinen. In zwei täglichen Workshops wurden diese Themen aufgearbeitet. Dabei waren unsere ersten Erkenntnisse keine Überraschung, denn vor allem eines war allen Teilnehmer*innen schnell klar: Stress ist nicht gut für uns. Er sorgt dafür, dass wir uns unwohl fühlen, verursacht Kopfschmerzen, Hautprobleme oder Verspannungen und er kann sogar die Ursache für chronische oder immer wiederkehrende Erkrankungen sein. All das war mir durchaus bewusst, und doch habe ich den Absprung vom Stress-Turm nie geschafft. Bislang.

Mir wurde klar, dass Stress ein von der Gesellschaft geschaffenes glorifiziertes Problem ist und dass er oft als Schlüssel zum Erfolg gefeiert wird.

Meditationen, Atemtechniken oder Journaling-Übungen – während ich da so saß, auf meiner Yogamatte, eingekuschelt in eine weiche Decke und brav meine Ein- und Ausatmungen zählte, wusste ich bereits: Im Alltag werde ich all das niemals durchziehen. Doch – Halt! – warum eigentlich nicht?  

Mir wurde schon am ersten Tag klar, dass Stress ein von der Gesellschaft geschaffenes glorifiziertes Problem ist und dass er oft als Schlüssel zum Erfolg gefeiert wird. Geleitet von diesem romantisierten Glaubenssatz war auch mein Alltag ein endloser Kreis aus halbherziger Entspannung (und, wie ich an diesem Wochenende lernte, Verdrängung meiner Gefühle) und absolutem mentalem Durcheinander. Mein Magen, meine Nerven und mein Tinnitus sagten mir: Stress ist tatsächlich der Schlüssel zum Chaos!

Gemeinsame Mahlzeiten und Zeit zum Entspannen gehörten auch zum Retreat.


Das Anti-Stress-Retreat half mir, aus diesem ungesunden Kreislauf auszubrechen, endlich einmal richtig in mich hineinzuhören und, unter Sues sanfter Anleitung, einige neue Erkenntnisse zu erlangen.

Learning Nr. 1: Entspannung muss man sich nicht verdienen!

Eine erste kleine Revolution in meinem Glaubenssystem war die Erkenntnis, dass ich mir Freizeit nicht verdienen muss. Das jetzt hier aufzuschreiben, fühlt sich komisch an, denn eigentlich ist das vollkommen logisch. Wir sollten unser Leben schließlich mit den Dingen füllen, die uns gut tun, ganz unabhängig von der Leistung, die wir erbringen. Entspannung darf passieren, auch wenn wir mal einen unproduktiven Tag im Job hatten oder nicht mal ansatzweise alle Punkte auf der To-Do Liste abgehakt haben.  

Learning Nr. 2: Meal Prep hat wohl wirklich Sinn.

Ein weiterer Stressor (dieses Wort habe ich neu gelernt und benutze es seitdem vielleicht etwas inflationär) sind für mich Mahlzeiten. Denn ich liebe Essen. Ich liebe es, darüber nachzudenken, darüber zu reden und es zuzubereiten. Doch so schön Gedanken über Essen auch sein mögen, so sehr stressen mich diese kleinen Entscheidungen im Alltag: Wann esse ich, was esse ich, mit wem esse ich und was muss ich dafür einkaufen? Die gemeinsamen Mahlzeiten, das gemütliche Frühstück am Morgen auf dem eigenen Zimmer und die geselligen Abendessen im charmanten Restaurant auf „Gut Damp“ zeigten mir, dass geplante Essenszeiten auch im Alltag eine wahre Wohltat für mich sind. 

Learning Nr. 3: “Wenn ich gehe, dann gehe ich …” – Multitasking macht mich verrückt.

An Tag zwei las Sue einen Text vor: „Ein Zen-Schüler fragt seinen Meister: „Was unterscheidet den Zen-Meister von einem Zen-Schüler?“ Der Zen-Meister antwortet: „Wenn ich gehe, dann gehe ich. Wenn ich esse, dann esse ich. Wenn ich schlafe, dann schlafe ich.““ Und dieser Text ertappte mich wie auf frischer Tat. Denn ich bin die Queen des Multitaskings und bis vor Kurzem dachte ich, dass ich maximal produktiv arbeite, wenn ich Essen und Arbeit, Telefonate und Haushalt oder Mails und Serien Schauen miteinander verbinde. Doch eigentlich laugt mich diese Dauerbeschallung oftmals nur aus. Ich konzentriere mich auf alles und doch wieder nichts und möchte in Zukunft wieder lernen, den Fokus auf eine Sache zu legen, anstatt Aufgaben zu jonglieren.

Learning Nr. 4: Auch Freizeitstress ist Stress.

Bisher beinhalteten meine Tage oft Arbeit, Treffen mit Freund*innen, Sport, Uni, Theaterbesuche, Kochabende oder Feierabendbierchen. Mein Tag hätte mehr als 24 Stunden gebraucht, um all diese Dinge ENTSPANNT und mit vollem Fokus durchzuziehen. Während des Retreats beschränkte ich mich auf genau einen Fokus: das Retreat. Und so versuche ich auch jetzt im Alltag, Tage in Fokusgruppen zu unterteilen. So gibt es bei mir jetzt Arbeits-Tage, Uni-Tage und reine Freizeit-Tage. Treffen mit Freund*innen beschränke ich auf maximal zwei an einem Tag, was für mich schon ein großer Fortschritt ist. 

Learning Nr. 5: Wir sitzen alle im gleichen Boot.

Und meistens ist es ein beinahe sinkendes. Ich habe gemerkt, dass nicht nur ich mit Problemen, Ängsten und Zweifeln zu kämpfen habe, sondern fast jeder Mensch. Während des Retreats hatte ich nicht nur Zeit mich mit meiner eigenen inneren Stimme zu beschäftigen, sondern auch den anderen Teilnehmer*innen zuzuhören und in den Austausch zu gehen. Wir sprachen über Familie, Karriere, Zukunftsängste und gesundheitliche Baustellen und stellten fest: Wir sind Menschen, wir dürfen weinen und Angst haben und das Ungewisse fürchten. Genauso können wir uns dabei aber auch gegenseitig stützen, zuhören und helfen.

femtastics Mitarbeiterin Juliane wurde beim Retreat auf „Gut Damp“ so einiges bewusst …

Learning Nr. 6: Der Alltag holt einen schneller ein, als man denkt.

Zurück im Trubel des Alltags, bin ich dann doch noch nicht an dem Punkt, an dem ich behaupten kann, meinen Stress perfekt zu managen. Ich habe mir meine Tage trotzdem viel zu voll gepackt, hangelte mich von Treffen zu Treffen, saß vollkommen überfordert am Schreibtisch und bekam am Ende die Retourkutsche in Form von Verdauungsbeschwerden, stechenden Kopfschmerzen und Verspannungen, die Schwindel verursachten. In diesen Momenten sehne ich mich wieder danach, in eine Decke gehüllt auf einer Yogamatte zu sitzen, ohne irgendetwas anderes tun zu müssen, außer zu atmen.

Stressmanagement ist letztlich ein fortlaufender Prozess und anscheinend eine lebenslange Reise zu innerer Gelassenheit.

Zurück in der gewohnten Umgebung, im Trubel der Stadt, ist es gar nicht so einfach, sich all das Gelernte immer wieder ins Gedächtnis zu rufen (bei 60.000 Gedanken pro Tag ist da schließlich auch ganz schön viel los im Kopf). Natürlich reicht ein Wochenende nicht, den Stress endgültig hinter sich zu lassen. Gefordert ist auch, all die gelernten Dinge dauerhaft als Routinen zu etablieren. 

Aber ich habe erkannt, wo meine Stressoren lauern und ich habe jetzt die Werkzeuge, um sie zu bändigen. Stressmanagement ist letztlich ein fortlaufender Prozess und anscheinend eine lebenslange Reise zu innerer Gelassenheit. An manchen Tagen muss ich mich erinnern: Juliane, atmen. An anderen Tagen tue ich dies ganz von alleine. Ein Retreat war dabei für mich sicherlich nicht die schnelle Lösung, aber es war auf jeden Fall ein Schritt in die richtige Richtung.  

Für alle, die sich auch nach einer stressfreien Auszeit und wertvollen Impulsen gegen Stress sehnen: Das Retreat findet erneut statt! Informationen gibt es auf Sues Website und auf der Seite vom “Gut Damp“.



Fotos: Sophie Wolter

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