Preeti Malkani: „Feministische Entwicklungszusammenarbeit bedeutet, Macht radikal umzuverteilen."
19. August 2025
geschrieben von Lisa van Houtem

Sexualisierte Gewalt, Armut, fehlender Zugang zu Bildung – Frauen* in Kriegs- und Krisenregionen sind überdurchschnittlich häufig von den zerstörerischen Folgen bewaffneter Konflikte betroffen. Die NGO "Women for Women International" begleitet seit über 30 Jahren Überlebende von Krieg, Gewalt und Vertreibung auf dem Weg in ein selbstbestimmtes Leben. Im Interview spricht Preeti Malkani, Vorsitzende des Aufsichtsrats von "Women for Women International Deutschland", über die Vision hinter der Organisation, feministisches Empowerment inmitten bewaffneter Krisen – und warum echte Veränderung nur gelingt, wenn Machtverhältnisse hinterfragt und verschoben werden.
"UN-Generalsekretär António Guterres hat kürzlich gesagt, heutzutage sei es gefährlicher, während eines bewaffneten Konflikts eine Frau* zu sein als ein Soldat."
femtastics: Wie ist die Rolle von Frauen* in Krisenregionen? Welchen Herausforderungen und Gefahren sind insbesondere Frauen* ausgesetzt?
Preeti Malkani: Frauen* sind von kriegerischen Auseinandersetzungen weitaus stärker betroffen als Männer*. UN-Generalsekretär António Guterres hat kürzlich gesagt, heutzutage sei es gefährlicher, während eines bewaffneten Konflikts eine Frau* zu sein als ein Soldat.
Frauen* Gewalt anzutun, gilt als besonders effektive Waffe, um eine Gesellschaft zu demoralisieren, denn Frauen* sorgen für Stabilität und dafür, dass Familien und Gesellschaften funktionieren. Einige der alltäglichen Bedrohungen von Frauen* und Mädchen in Konfliktregionen sind Zwangsverheiratung, sexualisierte Gewalt sowie der fehlende Zugang zu gesundheitlicher Versorgung und Bildung. Will man ein Land wieder stabilisieren, ist es wichtig, Frauen* zu unterstützen.
"Bei „Women for Women International“ glauben wir daran, dass jede Frau* die Kraft hat, etwas zu verändern.."
Seit über 30 Jahren stärkt „Women for Women International“ Frauen* in Kriegs- und Krisengebieten weltweit. Wie genau macht ihr das?
Bei „Women for Women International“ glauben wir daran, dass jede Frau* die Kraft hat, etwas zu verändern. Indem wir ihnen die Werkzeuge an die Hand geben, ein selbstbestimmtes Leben aufzubauen – für sich, ihre Familien und ihre Gemeinschaften. Sie finden ihre ganz eigenen Wege, sich für ihre Rechte stark zu machen, ihr Wissen weiterzugeben und sich für Frieden und Gleichberechtigung einzusetzen.
Unser Schulungsprogramm „Stronger Women, Stronger Nations” vermittelt den Teilnehmer*innen praktische Fertigkeiten wie Schneiderei und Landwirtschaft, klärt sie über ihre Rechte auf und stärkt ihre Gesundheitskompetenz sowie sozialen Bindungen. Sie erhalten Business-Trainings und schließen sich Spargruppen an, um finanziell unabhängig zu werden. In Kleingruppen entsteht ein starkes Gefühl der Sisterhood, in der man sich gegenseitig unterstützt und fördert. Seit zwei Jahren unterstützen wir überdies gezielt heranwachsende Mädchen ab 16 Jahren durch unser „Adolescent Girls Programme“, um sie für ihre Zukunft bestmöglich zu stärken und ihnen die Chance auf Bildung und Teilhabe zu geben.
In akuten Krisensituationen – wie aktuell etwa im Sudan oder in der Ukraine – leisten wir über unseren „Conflict Response Fund“ schnelle Nothilfe in enger Zusammenarbeit mit lokalen Partnern. So verbinden wir langfristige Entwicklung mit direkter Unterstützung – immer mit dem Ziel, Frauen* in ihrer Resilienz und Selbstbestimmung zu stärken.
Bezieht ihr auch Männer* mit ein?
Männer* beziehen wir durch das „Men’s Engagement Programme“ in unsere Arbeit mit ein, um tief verwurzelte Geschlechternormen zu hinterfragen und Veränderung in der gesamten Gemeinschaft zu ermöglichen.
"Wir hören zu, respektieren lokale Strukturen und arbeiten eng mit zivilgesellschaftlichen Organisationen vor Ort zusammen, um nachhaltige Veränderung zu ermöglichen."
Wie genau läuft das “Stand with her” Programm ab?
„Women for Women International“ verbindet deutsche Unterstützer*innen direkt mit Frauen* in Kriegsgebieten durch das "Stand with Her" Programm. Spender*innen können entweder eine persönliche "Sister" für 29 Euro monatlich unterstützen und mit ihr über ein Online-Portal korrespondieren, oder für 19 Euro eine ganze Schulklasse mit Materialien versorgen.
Die Frauen* haben dadurch die Chance, an unserem Schulungsprogramm teilzunehmen, einen Beruf zu erlernen und ihr eigenes Geld zu verdienen. Die Ergebnisse sprechen für sich: Die Frauen* können ihr Einkommen von durchschnittlich 1,77 auf 4,92 Euro täglich steigern, ihr Bewusstsein für Themen wie häusliche Gewalt wächst von 46 auf 70 Prozent, und drei Viertel fühlen sich nach dem Programm besser auf die Familienplanung vorbereitet.
Teilnehmer*innen werden gezielt aus marginalisierten Gruppen rekrutiert – Frauen*, die Krieg überlebt haben, in Armut leben oder sozial isoliert sind. Die Briefkontakte zu deutschen Unterstützer*innen geben ihnen dabei emotionalen Rückhalt, während sie lernen, ihr Leben selbstbestimmt zu gestalten und als Multiplikatorinnen in ihren Gemeinden zu wirken.
In welchen Regionen seid ihr aktiv?
Wir sind in Regionen tätig, die besonders stark von bewaffneten Konflikten, Gewalt und struktureller Ungleichheit betroffen sind – dort, wo Frauen* die Folgen von Krieg, Vertreibung und Armut besonders hart treffen. Seit der Gründung unserer globalen Organisation im Jahr 1993 konnten wir weltweit über 600.000 Frauen* in Konfliktländern wie dem Irak, Nigeria, Afghanistan, dem Südsudan und Ruanda unterstützen.
Insgesamt sind wir in rund 15 Krisenregionen aktiv. In neun dieser Länder haben wir eigene Länderbüros und Schulungszentren aufgebaut, die von lokalen Teams geführt werden. In weiteren Regionen – etwa in der Ukraine, Myanmar oder dem Sudan – leisten wir über unseren „Conflict Response Fund“ schnelle und flexible Hilfe in akuten Krisensituationen. Unser Ansatz ist dabei stets langfristig, partnerschaftlich und nah an den Bedürfnissen der Frauen*: Wir hören zu, respektieren lokale Strukturen und arbeiten eng mit zivilgesellschaftlichen Organisationen vor Ort zusammen, um nachhaltige Veränderung zu ermöglichen.
"Frauen*, die Krieg und Konflikt überlebt haben, sind oft die unsichtbaren Heldinnen. Sie halten Familien zusammen, bauen Gemeinschaften wieder auf und schaffen nachhaltigen Frieden."
Warum hast du das deutsche Büro von „Women for Women International" gegründet? Wie war der Weg dahin?
Inspiration war ein Artikel in einem britischen Magazin über eine Afghanin und eine Nigerianerin, die durch bewaffnete Konflikte Traumatisches erlebt hatten. Mit Unterstützung von „Women for Women International“ konnten sich beide eine neue Existenz aufbauen. Das hat mich tief beeindruckt und ich habe mich gefragt, warum in Deutschland keiner diese Organisation kennt. Das wollte ich unbedingt ändern, denn ich war und bin überzeugt: Frauen*, die Krieg und Konflikt überlebt haben, sind oft die unsichtbaren Held*innen. Sie halten Familien zusammen, bauen Gemeinschaften wieder auf und schaffen nachhaltigen Frieden – aber ihre Stimmen werden oft überhört. Ich habe mich entschlossen, diesen starken Frauen* meine Stimme zu leihen und Menschen dazu einzuladen, sich unserer Mission anzuschließen.
Ich stand vor der Herausforderung, ein ganz neues Büro in Deutschland zu gründen. Ich hatte die Vision, aber keine Ahnung, wie man eine NGO in Deutschland aufbaut. Die bürokratischen Hürden, die rechtlichen Fragen, die Finanzierung – es war ein riesiger Berg. Dann passierte etwas Wunderbares: Menschen haben an diese Mission geglaubt. Ehrenamtliche Unterstützer*innen kamen zu mir und wollten ein Teil davon sein. Jurist*innen boten ihre Expertise kostenlos an, Freund*innen und Bekannte öffneten ihre Netzwerke.
"Feministische Entwicklungszusammenarbeit stellt fundamentale Machtstrukturen in Frage, anstatt sie zu reproduzieren."
Wie sieht deinem Verständnis nach feministische Entwicklungszusammenarbeit heute aus?
Feministische Entwicklungszusammenarbeit stellt fundamentale Machtstrukturen in Frage, anstatt sie zu reproduzieren. Während klassische Entwicklungshilfe oft paternalistisch von oben nach unten operiert und dabei bestehende Hierarchien zwischen Geber- und Nehmerländern verstärkt, geht es beim feministischen Ansatz um eine radikale Umverteilung von Entscheidungsmacht.
Der entscheidende Unterschied liegt in der Analyse: Feministische Entwicklungszusammenarbeit erkennt, dass Armut und Ungerechtigkeit nicht geschlechtsneutral sind. Frauen* und marginalisierte Gruppen sind überproportional von struktureller Benachteiligung betroffen – nicht als Zufall, sondern als Resultat systematischer Machtverhältnisse. Deshalb reicht es nicht, Frauen* als "Zielgruppe" zu definieren oder sie in bestehende Programme zu "integrieren".
"Das klassische Narrativ fragt: "Wie können wir helfen?" Der feministische Ansatz fragt: "Wie können wir Macht umverteilen?"
Welchen feministischen Ansatz verfolgt ihr stattdessen?
Unser Ansatz ist: lokale Organisationen und Bewegungen gehen mit ihren Visionen voran, internationale Partner folgen. Finanzierung fließt direkt an Grassroots-Initiativen, besonders an von Frauen* geleitete Organisationen. Erfolg wird nicht nur an ökonomischen Kennzahlen gemessen, sondern daran, ob sich Machtverhältnisse verschieben – in Haushalten, Gemeinden und politischen Strukturen.
Das klassische Narrativ fragt: "Wie können wir helfen?". Der feministische Ansatz fragt: "Wie können wir Macht umverteilen?". Diese Verschiebung ist unbequem, weil sie von Geberländern verlangt, ihre eigene Rolle und ihre Privilegien zu hinterfragen. Aber nur so entsteht echte Transformation statt oberflächlicher Symptombehandlung. Aktuell steht feministische Außenpolitik jedoch nicht wirklich im Fokus.
"Das ist die Kraft des Einzelnen: nicht die Welt auf einmal zu retten, sondern einem Menschen die Chance zu geben, sein Leben zu verändern."
Durch deine Arbeit bist du mitunter mit viel Leid und Ungerechtigkeit konfrontiert. Wie kommst du persönlich mit der Gleichzeitigkeit der Krisen zurecht?
Ja, diese Konfrontation mit dem Leid ist sehr präsent. Wenn ich die Berichte aus Afghanistan lese, die Geschichten von Frauen* höre, die alles verloren haben, oder sehe, wie Gewalt ganze Gemeinschaften zerstört – das geht natürlich nicht spurlos an mir vorbei.
Aber genau in diesen Momenten der Überforderung hole ich mir bewusst die Einzelschicksale vor Augen, bei denen wir Veränderung bewirkt haben. Mein Engagement für „Women for Women International“ hat mir gezeigt, dass selbst angesichts der größten Krisen Transformation möglich ist. Vielleicht können wir nicht die ganze Welt verändern, aber wir können die Welt eines einzelnen Menschen komplett verwandeln. Wenn Claire in Ruanda heute ihre Familie ernähren kann, wenn eine Frau* im Nordirak ihre Kinder zur Schule schickt – dann ist das keine kleine Veränderung. Das ist alles für diese Frauen*.
Jede einzelne Geschichte zeigt: Veränderung beginnt immer bei einem Menschen. Und von dort aus breitet sie sich aus – in Familien, Gemeinschaften, ganze Gesellschaften. Das ist die Kraft des Einzelnen: nicht die Welt auf einmal zu retten, sondern einem Menschen die Chance zu geben, sein Leben zu verändern. Wenn ich mich von der Größe der globalen Probleme überwältigt fühle, konzentriere ich mich bewusst auf diese eine Frau*, deren Leben sich durch unsere Arbeit verändert hat. Das gibt mir die emotionale Stabilität und den Mut weiterzumachen.
"Was ich sehe, ist eher eine Polarisierung der lautesten Stimmen, während die große Mehrheit der Menschen nach wie vor zu Empathie und Verständnis fähig ist."
Welche Begegnung im Rahmen deines Engagements für "Women for Women International" ist dir besonders in Erinnerung geblieben?
Es gibt so viele bewegende Begegnungen, aber ich teile gerne eine während meiner Reise in Ruanda. Während des Völkermords vor 31 Jahren sind dort innerhalb von hundert Tagen rund eine halbe Million Frauen* vergewaltigt worden. Doch die Frauen*, denen ich begegnet bin, haben mich durch ihre Kraft und Energie sehr beeindruckt. Claire überlebte als Kind den Genozid, verlor ihre Eltern und erlebte selbst massive Gewalt. Durch das Zusammentreffen mit anderen Frauen* in unserem Programm, die Ähnliches durchgemacht hatten, lernte sie wieder Vertrauen zu fassen.
Dieses Gefühl von Sisterhood war genauso wichtig wie das Einkommen, das sie über die Ausbildung generieren konnte. Durch unser Programm erlernte sie die Joghurt-Herstellung und kann heute ihre Familie selbst versorgen. Ihre Kraft und Würde hat mich tief berührt und sie verkörpert für mich, wofür wir arbeiten: dass manchmal eine einzige Chance ausreicht, um ein ganzes Leben zu verändern.
Im Zuge der Eskalation insbesondere im Nahen Osten in den letzen Monaten und Jahren ist (auf Social Media) Alarmierendes zu beobachten: Von Rassismus über Antisemitismus bis hin zur Verbreitung von Fake News, die im schlimmsten Fall beides befeuern. Wie nimmst du das wahr: Spaltet sich die Gesellschaft gerade weiter?
Was ich beobachte, ist tatsächlich beunruhigend. Die Komplexität von Konflikten wie im Nahen Osten wird in den sozialen Medien oft auf vereinfachende Narrative reduziert, die dann Hass und Vorurteile befeuern. Menschen, die sonst differenziert denken, verfallen plötzlich in Schwarz-Weiß-Kategorien.
Aber ich glaube nicht, dass sich die Gesellschaft unwiderruflich spaltet. Was ich sehe, ist eher eine Polarisierung der lautesten Stimmen, während die große Mehrheit der Menschen nach wie vor zu Empathie und Verständnis fähig ist. In meiner Arbeit erlebe ich täglich, wie Menschen verschiedener Hintergründe zusammenkommen, wenn es um konkrete Hilfe geht.
Das Problem ist, dass Algorithmen Extreme verstärken und die leisen, besonnenen Stimmen übertönen. Deshalb ist es umso wichtiger, dass wir als Organisationen authentische Geschichten erzählen – Geschichten, die Menschlichkeit zeigen, statt Feindbilder zu bedienen. Wenn wir von Claire aus Ruanda oder Amina aus dem Irak erzählen, dann geht es nicht um Geopolitik, sondern um Menschen. Und Menschen verbinden, sie spalten nicht.
"Europa hat die Chance, eine Alternative zu zeigen – zu autoritären Systemen, die Frauenrechte missachten, aber auch zu einem Feminismus, der nur privilegierte Schichten erreicht.."
Welche gesellschaftspolitische Verantwortung misst du Europa bei?
Europa trägt eine immense Verantwortung, sowohl historisch als auch gegenwärtig. Wir leben in einer der wohlhabendsten und stabilsten Regionen der Welt, und das verpflichtet uns. Aber ich sehe Europas Verantwortung nicht nur in der finanziellen Unterstützung, so wichtig diese auch ist. Europa kann und muss Vorreiter bei der Förderung von Frauen*rechten werden – nicht nur in der Entwicklungszusammenarbeit, sondern durch konsequente Außenpolitik. Wenn wir Handelsabkommen verhandeln oder diplomatische Beziehungen pflegen, müssen Frauen*rechte ein zentraler Baustein sein, kein Randthema. Gleichzeitig haben wir die Aufgabe, hier in Europa selbst mit gutem Beispiel voranzugehen. Wie können wir glaubwürdig für Gleichberechtigung in Afghanistan eintreten, wenn bei uns Frauen* immer noch weniger verdienen oder Gewalt gegen Frauen* zu oft verharmlost wird?
Europa hat die Chance, eine Alternative zu zeigen – zu autoritären Systemen, die Frauen*rechte missachten, aber auch zu einem Feminismus, der nur privilegierte Schichten erreicht. Wir können beweisen, dass eine Gesellschaft stärker wird, wenn alle Menschen, unabhängig von Geschlecht, Herkunft oder sozialem Status, ihre Potentiale entfalten können. Das ist nicht nur moralisch richtig, sondern auch ökonomisch klug.
Hier findet ihr "Women for Women International Deutschland":
Foto/Collage: PR/"Canva"