Jeden Tag emotional missbraucht zu werden, ohne es zu bemerken – das können sich viele von uns nicht vorstellen. Die Diplompsychologin Turid Müller hat es selbst erlebt. Sie weiß, wie subtil toxisches Verhalten auftreten kann – und dabei unablässig das Leben einer anderen Person zerstört. Viele kleine Interaktionen, jede für sich genommen scheinbar harmlos: Ein despektierlicher Kosename hier, ein gut kaschiertes Eifersüchtigmachen da. Eine mögliche Ursache dafür heißt „Verdeckter Narzissmus“. Und dieser widmet sich Turid in ihrem neuen Buch. Darin klärt sie uns umfassend über das psychologische Phänomen auf und zeigt Betroffenen Wege und Möglichkeiten, narzisstischem Missbrauch zu entkommen. Im Interview erklärt sie, warum wir Narzissmus manchmal so schwer erkennen können, welche Folgen emotionaler Missbrauch haben kann und wie wir Menschen in Zukunft davor schützen können.
Turid Müller: Ja. Ich war selbst bereits von narzisstischem Missbrauch betroffen. Und wie alle anderen Betroffenen auch, habe ich versucht herauszufinden, was los ist. Ich habe viel recherchiert, bin auf viele Begriffe gestoßen. Aber erst das Wort „verdeckter Narzissmus“ hat mich weitergebracht und mir letztlich die Chance gegeben, mich aus dieser Beziehung zu lösen.
Genau. Mir ist aufgefallen, wie wenig Literatur es gerade im deutschsprachigen Raum über verdeckten Narzissmus gibt. In den meisten Ratgebern geht es eher um die anderen klassischen Narzissmus-Varianten, meist um den sogenannten grandiosen Narzissmus.
Grandiose Narzisst*innen sind stark von sich überzeugt, haben ein großes Ego und reden viel über sich. Das ist das, was wir meinen, wenn wir auch küchenpsychologisch über Narzissmus sprechen. Aber daneben gibt es weitere Ausprägungen, über die wir sehr schlecht aufgeklärt sind.
Ja, das ist mittlerweile schon so eine Art Modewort. Aber „Narzissmus“ ist nicht nur in der Küchenpsychologie, sondern auch in der Wissenschaft nicht ganz klar eingegrenzt. Da gibt es eine große Unschärfe in der Definition.
Wenn etwas mir nicht gut tut, bringe ich mich in Sicherheit – egal welche Diagnose ein Profi geben würde.
Die Diagnoseschlüssel und die genauen Definitionen für Narzissmus werden immer noch bearbeitet. Aber ich muss sagen, für die betroffene Person ist eine eindeutige Diagnose gar nicht so wichtig. Da ist es vor allem wichtig, bestimmte Muster zu erkennen. Und dann kann ich für mich schlussfolgern, ob mir das gut tut oder nicht. Und wenn es mir nicht gut tut, bringe ich mich in Sicherheit – egal welche Diagnose ein Profi geben würde.
Ja und Nein. Erstmal können wir alle Missbrauch erleben und manipuliert werden. Einige Menschen sind jedoch besonders attraktiv für narzisstische Menschen oder merken besonders spät, wo sie da rein geraten sind. Das kann ganz unterschiedliche Ursachen haben, zum Beispiel ein narzisstisches Elternhaus. Wer so aufgewachsen ist, ist gewohnt, dass sich „Liebe“ so anfühlt. Es fühlt sich vertraut an – wie zu Hause! Auch eine komplexe posttraumatische Belastungsstörung kann dazu führen, dass wir nicht erkennen, wo wir sicher sind. Oder dass wir ganz bewusst nach intensiven Achterbahn-Beziehungen suchen, um uns selbst mehr zu spüren.
Auch viele eigentlich positive Eigenschaften von besonders empathischen Menschen können bewirken, dass es schwer ist, sich aus krankmachenden Beziehungen zu lösen: So suchen beispielsweise reflektierte Persönlichkeiten die Verantwortung für Schwierigkeiten erst mal bei sich. Das zahlt in die narzisstische Dynamik ein: In der Partnerschaft landet die Schuld für alles ohnehin bei ihnen, denn narzisstische Menschen sehen bei sich ja keine Schwächen.
Verdeckter Narzissmus kann uns natürlich überall begegnen, in jeder Art von Beziehung. Aber die komplexesten Beziehungen sind in der Regel Liebesbeziehungen. Die kommen uns besonders nahe und können daher eine besonders zerstörerische Wirkung entfalten. Genau so stark und meist viel prägender ist es auch bei Herkunftsfamilien.
Verdeckter Narzissmus kann uns natürlich überall begegnen, in jeder Art von Beziehung.
Ja, ich musste das Thema eingrenzen. Ich freue mich auf jeden Fall auf ein Anschlussbuch! (lacht) Aber die Muster, die ich beschreibe, sind auf andere Beziehungsarten übertragbar. Und auch die Kommunikationstechniken, mit denen ich mich vor emotionalem Missbrauch schützen kann. Die kann man universell einsetzen.
Solche Traumabeziehungen lassen nichts mehr von uns über: Das eigene Leben (Freundschaften, berufliche Entwicklung, die Gestaltung des Lebensweges etc.) und das Glück bleiben auf der Strecke. Zudem können Betroffene unter ganz unterschiedlichen seelischen und körperlichen Folgen leiden, denn sie sind dauerhaft Stress ausgesetzt. Dadurch schüttet unser Körper ständig Stresshormone aus und es entsteht ein extremer Hormonhaushalt. Eine ganz typische Folge von narzisstischem Missbrauch ist eine Depression. Es können aber auch körperliche Erkrankungen wie Entzündungserkrankungen entstehen. Einige leiden auch am Fatigue-Syndrom. Sie sind also dauerhaft bis zur Arbeitsunfähigkeit müde und abgeschlagen. Es gibt auch Situationen, in denen Betroffene in den Selbstmord getrieben werden.
Ja, da gibt es teilweise wenig Verständnis. Aber gerade, weil es so unsichtbar ist, sind sowohl der Missbrauch selbst als auch seine Folgen nicht zu unterschätzen! Und darüber hinaus kann emotionaler Missbrauch auch in körperlichen Missbrauch münden. Subtile sexuelle Nötigung beispielsweise ist in solchen Partnerschaften keine Seltenheit.
Gerade weil es so unsichtbar ist, sind sowohl der Missbrauch selbst als auch seine Folgen nicht zu unterschätzen!
Ich beziehe mich bei dem Begriff vor allem auf die Forschung von Aaron L. Pincus und Kolleg*innen. Laut ihnen gibt es einmal den grandiosen Narzissmus und den vulnerablen Narzissmus. Im Gegensatz zur grandiosen Ausprägung wirken vulnerable Narzist*innen auf den ersten Blick oft alles andere als narzisstisch: Sie sind vielleicht schüchtern, sozial eher ungeschickt und scheinen ein niedriges Selbstbewusstsein zu haben. Beide Facetten liegen wie zwei Seiten einer Medaille bei Menschen mit Narzissmus vor, aber in unterschiedlicher Ausprägung. Und beide Formen können sich offen zeigen oder verdeckt.
Genau! Offen heißt: Ich kann es beobachten. Zum Beispiel, wenn eine Person sagt: „Ich bin der größte Präsident, den es jemals gegeben hat!“
Verdeckter Narzissmus bedeutet: Die Handlungen und Aussagen scheinen überhaupt nicht narzisstisch zu sein. Und ich muss schlussfolgern, dass es dahinter Motive gibt, die dann doch narzisstisch sind. Generell gilt ja für Narzissmus: Ich zeige mich in der Außenwelt anders als zu Hause. Aber verdeckter Narzissmus geht eine Stufe weiter: Selbst Familie oder Partner*innen merken nicht, dass sie seelischen Missbrauch erfahren. Weil er so zwischen den Zeilen passiert. Nach außen hin höre ich zum Beispiel ständig „Ich liebe und schätze dich“. Aber die Handlungen passen überhaupt nicht zu diesen Worten und sind nur darauf angelegt, mein Selbstbewusstsein zu untergraben.
Dabei können verdeckt narzisstische Menschen liebevoll und mitfühlend erscheinen und von ihrem Umfeld großes Vertrauen genießen. Vielleicht retten sie gerade die Welt und engagieren sich sozial. Andere beneiden uns vielleicht um diese scheinbar intakte, ja ideale Partnerschaft.
Selbst Familie oder Partner*innen merken nicht, dass sie seelischen Missbrauch erfahren. Weil es so zwischen den Zeilen passiert.
Ganz genau! Weil er verdeckt ist, kann ich mich nicht gegen ihn wehren. Ich bleibe potenziell länger in solchen Bindungen, weil ich den Missbrauch nicht eindeutig erkenne.
Wissen anhäufen! Zum Beispiel durch Bücher oder Internetquellen. Und so lernen, die Muster zu erkennen. Denn die Muster sind bei allen narzisstisch veranlagten Menschen in etwa dieselben. Aber sie spielen sich im Alltag in unterschiedlichen Themenfeldern und Kontexten ab.
Nehmen wir zum Beispiel Gaslighting, eine typische Manipulationstechnik, die eine andere Person in Unsicherheit stürzt. Ich bin mir dann nicht mehr sicher, was wahr ist und was nicht. Allein bei dieser Technik gibt es unfassbar viele Variationen, in denen sie auftreten kann. Die klassische Version wäre einfach zu sagen: „Das war ganz anders. Das war nicht so. Das habe ich nie gesagt.“ Aber es gibt auch viele andere Spielarten. Zum Beispiel, Gegenstände verlegen, sodass die andere Person an ihrer geistigen Gesundheit zweifelt.
Ich bin mir dann nicht mehr sicher, was wahr ist und was nicht.
Sich Unterstützung holen, einen Blick von außen. Das kann eine therapeutische Begleitung oder ein Coaching sein. Es ist aber wichtig darauf zu achten, dass ich an eine Person gerate, die sich mit verdecktem Narzissmus und narzisstischem Missbrauch auskennt. Ich würde mal frech behaupten, das ist etwas Anderes als die meisten meines Faches in ihren Ausbildungen gelernt haben. Diese Form von Narzissmus ist relativ jung im Bewusstsein der Wissenschaft. Deshalb ist die Gefahr hoch, an Menschen zu geraten, die das nicht erkennen und einem auch nicht da raushelfen können.
Oft gibt es im Leben diesen einen Menschen, der mich so gut kennt, dass er mir vielleicht einen Realitycheck geben kann. Wenn mir meine Partner*in bei einem Konflikt zum Beispiel wieder die gesamte Schuld gibt, ich habe aber so ein Bauchgefühl, dass doch nicht immer Alles an mir liegen kann. Dann kann ich diese nahstehende Person anrufen und mich vielleicht in meiner Wahrnehmung bestätigen lassen. Oder mein*e Partner*in gibt mir das Gefühl, ich wäre faul. Und meine Freund*innen sagen aber: „Ganz ehrlich, ich kenne wenige Menschen, die so engagiert sind wie du!“ Dann hilft mir diese Außenwahrnehmung weiter. Aber es ist wichtig, dass wir uns an Menschen wenden, die noch eine gewisse Klarheit haben und von der narzisstischen Person nicht schon genauso gegaslighted sind wie wir selbst.
Oft gibt es im Leben diesen einen Menschen, der mich so gut kennt, dass er mir vielleicht einen Realitycheck geben kann.
Einmal daran, dass sich Forschende darüber klar werden, dass es nicht nur den grandiosen Narzissmus gibt. Denn dieser war und ist größtenteils eine Männerdomäne. Schließlich entsprechen die Symptome eher dem, was wir in der Gesellschaft als „typisch männlich“ betrachten. Frauen* finden sich eher im vulnerablen Narzissmus wieder. Wobei sie durch die Aufweichung der Geschlechterrollen auch beim grandiosen Narzissmus aufholen.
Richtig. Er zeigt sich viel subtiler und funktioniert auch aus der weiblichen Märtyrerinnen-Rolle heraus. In dieser Form des Narzissmus‘ liegen Frauen* und Männer* zahlenmäßig ungefähr gleich.
Laut einer Theorie führen sie tatsächlich dazu, dass Narzissmus bei Frauen* seltener erkannt wird. Auch wenn klare narzisstische Symptome vorliegen, haben Diagnostiker*innen vor Augen: Frauen sind nicht narzisstisch. Und so wird dieses Vorurteil reproduziert.
In unserer Kindheit und Jugend warnt man uns vor allem Möglichen. Aber man bringt uns nicht bei, wie wir emotionalen Missbrauch erkennen können.
Ich denke, ein zentraler Aspekt ist Wissen. In unserer Kindheit und Jugend warnt man uns vor allem Möglichen. Aber man bringt uns nicht bei, wie wir emotionalen Missbrauch erkennen können. Deshalb fehlt uns die Schablone im Kopf. Und für den Start wäre es wichtig, dass wenigstens Menschen im therapeutischen oder pädagogischen Bereich über diese Schablone verfügen und ihren Schutzbefohlenen gezielter helfen können.
Interview: Luise Rau
Illustration: Helena Ravenne
Fotos: Turid Müller
6 Kommentare
Habe 20 Jahre gebraucht um meine verdeckt narzistische Schwester zu entlarven. Es ist echt schwer zu erkennen, aber ich spürte immer da passt was nicht zusammen. Nach Aussen sehr verständnisvoll, zuhörend und zuvorkommend. Gleichzeitig strahlt sie eine totale innere Leere und Kälte aus, möchte mich kleinhalten wo es nur geht, übersieht mich immer als gäbe es mich garnicht. Alles was aus ihrem zuckersüssem Mund kommt fühlt sich für mich gegenteilig an. Sie schreibt mir zB…. würd mich freuen wenn du auf einen Kaffee kommst. In mir zieht sich alles zusammen und schreit: Neeiiin, ich will nicht. Ich bin grad dabei den Kontakt zu reduzieren und öffne mich ihr gegenüber nich mehr. Nur Smalltalk… wir treffen uns bei meinen Eltern. Zu ihr nach Hause fahr ich nicht mehr. Ich möchte mit ihr nicht alleine sein. Ich möchte es aber sanft machen, so subtil wie sie es machte…. So dass es nicht wirklich auffällt… nach der feinen englischen Art sozusagen…. Der verdeckte Narzisst ist der schlimmste űberhaupt weil er so subtil sein Gift injiziert. Am Anfang zweifelte ich an mir. Mein Vater war ein offener Narzisst darum war ich das ja gewohnt dieses Muster es jedem rechtzumachen. Mit ihr reden ist sinnlos… sie macht Schuldumkehr. Ich erkannte dass sie ein verdeckter Narzisst ist als ich ihr freudestrahlend mein Erlebnis beim Pferd erzählte. Sie starrte mich an sagte kein Wort und ging. Ich war echt unter Schock. Als ich ihr das später mal mitteilte dass ihr Verhalten komisch war sagte sie nur: der Zeitpunkt hat wohl nicht gepasst, kannst mirs gern mal erzählen. Ich weiß sie ist Gift für mich. Sie kann sehr freundlich sein sodass ich immerwieder vertraute. Aber jetzt ist Schluss damit!
Danke für dieses gelungene Interview zu diesem überaus wichtigen Thema!
Ich kann nur sagen – Leute, fangt bei den Kindern an.
Da ich in meinen Leben leider schon einiges an Erfahrung mit narzisstischen Personen gesammelt habe, möchte ich noch etwas anmerken, was Hilfe und Lösung zugleich sein kann:
Ich war voller Zorn, Hass und Schmerz auf all diese Personen, die mich jahrelang missbraucht hatten – meinen Vater, ehemalige Partner, Freundin… – und ich merkte, dass mich diese Emotionen auffressen. Eines Tages ging mir der Knopf auf, als ich folgende Zeilen las…
„Die Kränkbarkeit ist die Achillesferse jeder narzisstischen Störung. Die Abhängigkeit von der außen gegeben Bestätigung begründet die hohe Empfindlichkeit. Da ein Selbstwertgefühl nicht basal erlebt werden kann, bedarf es Fremdbestätigung. Was im Innersten nicht vorhanden ist, muss von außen zugeführt werden – es bleibt aber alles nur Falschgeld, weil sich der erfahrene Liebesmangel nicht mehr auffüllen und ungeschehen machen lässt. So zwanghaft abhängig das narzisstische Defizit von entgegengebrachter Anerkennung ist, so wenig lässt es sich wirklich heilen.“
Und plötzlich war ich voller Mitgefühl für diese Menschen. Wie sehr müssen sie als Babys, Kleinkinder und Kinder gelitten haben, sich gesehnt haben nach Liebe und Zuwendung, nach Anerkennung. In Wahrheit kauert in ihrem Innersten noch dieses kleine Kind und weint und sie werden nie von diesem Schmerz erlöst werden können. Wie grausam!
Meine destruktiven Emotionen verflogen mit dieser Erkenntnis und zugleich würde mir folgendes klar.
Ich habe selbst gerade das Glück einen 2jährigen Sohn Liebe geben zu dürfen und es verwundert mich gar nicht mehr, dass es immer mehr Narzissten gibt, in dieser leistungsorientierten Gesellschaftsstruktur, in der Eltern allein gelassen und überfordert sind und Materialismus, Profit, die Wirtschaft und an oberster Stelle zu stehen scheinen. An erster Stelle sollte der Mensch stehen – also fangen wir bei den Kindern an – seien wir einfühlsam, verständnis- und liebevoll!
Ich habe das Buch nach knapp 50 Seiten beiseite gelegt und später entsorgt. Die Autorin beschreibt Allerweltsmerkmale von Personen und scheint sehr sehr empfindlich zu sein. Da liegt es natürlich nahe, dass man vieles als Kränkung und „Mikoraggression“ bezeichnet was andere als normal empfinden. ich war selbst in einer solchen Beziehung und kann das zwar nachfühlen aber ich muss auch zugeben, dass mein Nachfolger bei dieser Frau bestens mit ihr klarkommt und die beiden seit 3 Jahren glücklich sind, sogar schon zusammen wohnen. Da muss man auch mal zugeben: Das hat einfach nicht gepasst mit uns! Deshalb dichte ich ihr keinen Narzissmus an, denn sie hat das Recht sich einen passenden Partner zu suche und da war ich nicht. Im Nachhinein sie für mich aber auch nicht, weil ich schwaches Ego mich anfing zu nerven, ich bevorzuge Frauen die sagen was sie wollen.