Im beruflichen Kontext stehen Frauen* in den Wechseljahren vor besonderen Herausforderungen. Viele haben hart für ihre Karriere gekämpft und sehen sich nun mit dem gesellschaftlichen Druck konfrontiert, konstant produktiv zu sein – obwohl sie gleichzeitig unter Wechseljahresbeschwerden leiden.
Mit „hermaid“ haben Anne und Susanne Feldt eine KI-gestützte Gesundheitsbegleitung für Frauen* am Arbeitsplatz entwickelt. Diese bietet individuelle Tipps und Informationen, basierend auf persönlichen Daten und Bedürfnissen. Ein Chatbot begleitet die Nutzerinnen durch die Wechseljahre und stellt bei Bedarf den Kontakt zu Ärzt*innen her. Wir sprechen mit Anne Feldt darüber, wie Unternehmen besser auf das Thema Wechseljahre reagieren können und warum es dringend mehr Aufklärung und Forschung braucht.
Viele Frauen* trennen sich in der Zeit und starten noch mal neu in eine andere Lebensphase.
Anne Feldt: Das Thema verlässt langsam die Bubbles und rückt gesamtgesellschaftlich weiter in den Fokus. Es findet aktuell ein Sinneswandel statt, dennoch ist es ein Tabuthema. Vor allem in westlichen Industrieländern wird Älterwerden nicht unbedingt positiv wahrgenommen und thematisiert. Die Wechseljahre sind eine Übergangsphase und eine Zeit, die viel mit Abschieden und mit Verlusten zu tun hat. Abschied vom Kinderwunsch, Abschiede von Beziehungen.
Viele Frauen* trennen sich in der Zeit und starten noch mal neu in eine andere Lebensphase. Kinder werden erwachsen und ziehen aus, die eigenen Eltern sterben usw. Dadurch ist es eine sehr prägende Lebensphase, die viel verändern kann. Damit ist auch eine gewisse Schwermut verbunden, weil viele mit 40, 50 Jahren realisieren, dass (im besten Fall) die Hälfte des Lebens vorbei ist. Und oft bemerkt man in diesem Alter körperliche Themen, die man vorher gut wegstecken konnte.
Wir müssen weg von diesem Produktivitätsgedanken, der davon ausgeht, dass alle Menschen immer gleichbleibend funktionieren.
Viele Frauen*, die jetzt Anfang/Mitte 50 sind, mussten richtig hart dafür kämpfen, eine Karriere machen zu können. Denn es gibt viele Themen, die auf Frauen* zukommen, wenn sie berufstätig sind und eine Familie haben, Stichwort Vereinbarkeit. Wir müssen weg von diesem Produktivitätsgedanken, der davon ausgeht, dass alle Menschen immer gleichbleibend funktionieren – wie Maschinen. Das ist nicht der Fall, bei niemandem.
Wir brauchen neue Vereinbarkeitsmodelle. Wir müssen Wege und Möglichkeiten finden, dass alle wirklich so arbeiten können, wie es zu ihren jeweiligen Lebensumständen passt. Davon würden alle profitieren. Wenn Menschen wirklich in ihre Selbstwirksamkeit kommen können, dann ist die Lebensqualität viel größer und die Ergebnisse sind deutlich besser. Diverse Teams beispielsweise wirtschaften nachhaltiger – für Mensch, Natur und Umwelt – und sind gleichzeitig ergebnisorientierter.
Unternehmen müssen Räume und Möglichkeiten schaffen. Es muss Unterstützungsangebote geben und die Themen sollten transparent angesprochen werden. Zum Vergleich: Mentale Gesundheit war ein Tabuthema, über das vor zehn Jahren kaum jemand öffentlich gesprochen hat. Heute ist es nahezu normal.
Vor allem geht es darum, Führungskräfte und Mitarbeitende aufzuklären und Informationen bereitzustellen.
Ja. Unternehmen sollten ihren Mitarbeiterinnen im ersten Schritt signalisieren: „Du bist okay, das ist normal, du bist nicht alleine und wir sehen das Thema und akzeptieren es.“ Im zweiten Schritt müssen Angebote geschaffen werden, die hilfreich sind und die das Arbeiten leichter machen. Das können solche Angebote sein, wie wir sie bei “hermaid” haben.
Vor allem geht es darum, Führungskräfte und Mitarbeitende aufzuklären und Informationen bereitzustellen. Und natürlich geht es auch um konkrete Maßnahmen, wie flexible Arbeitszeiten und Homeoffice. Ich weiß aber natürlich, dass das so nicht in allen Branchen oder Berufsgruppen möglich ist. Leider. Denn vor allem Homeoffice ist oft ein ganz wichtiges Thema für Frauen* in den Wechseljahren. Einige haben zum Beispiel super starke Sturzblutungen. Da ist es verständlich, wenn man in dieser Zeit lieber zuhause arbeitet. Unternehmen müssen Mitarbeitende unterstützen, den Druck rausnehmen und diese Themen normalisieren.
Unsere Grundannahme ist, dass die Wechseljahre und die Lebenssituationen individuell sind. Das heißt, dass es natürlich grundsätzliche Empfehlungen oder Interventionen gibt (wie Hormonersatztherapie, Ernährung, Kraftsport), aber gleichzeitig hat jede Frau* unterschiedliche Voraussetzungen – abhängig davon, an welchem Punkt sie startet.
Einige Frauen* sind eventuell schon stark überlastet, wenn sie anfangen, sich mit dem Thema zu beschäftigen. Wenn man ihnen dann beispielsweise sagt, sie sollen ihre Proteinzufuhr mit verschiedenen Hacks steigern, könnten sie überfordert sein. An diesem Punkt wäre eine andere Intervention sinnvoller. Deshalb ist uns individuelle Begleitung wichtig.
Unser Bot begleitet Frauen* durch die Wechseljahreszeit, zu jeder Zeit und an jedem Ort.
Unser KI Ansatz kann auf Basis eines Datensatzes individuelle Tipps, Tricks und Informationen bereitstellen. Man startet seine Journey mit einem Fragebogen und sukzessive wird ein individuelles Datenprofil aufgebaut. Die KI lernt anhand der jeweiligen Interaktionen.
Man interagiert unter anderem über eine Chat-Funktion, durch die Informationen bereitgestellt werden – zu all den Fragen, die man hat. Es gibt Lerninhalte und kleine Selbstexperimente. Unser Bot begleitet Frauen* durch die Wechseljahreszeit, zu jeder Zeit und an jedem Ort. Und an jedem Punkt der individuellen Journey.
Natürlich benötigt man manchmal eine Diagnose, hat tiefergehende Fragen oder wünscht sich eine zweite Meinung. In dem Fall ist es möglich, mit echten Personen zu sprechen. Wir haben einen Pool an ganzheitlichen Ärzten und Ärztinnen, die man buchen kann.
Meine Schwester Susanne, mit der ich “hermaid” gegründet habe, hat damals als Freelancerin bei einem Start-up gearbeitet, das sich mit dem Thema milde Depression bei Frauen* im mittleren Alter beschäftigt hat. In User Interviews und Recherchen, die sie jobbedingt gemacht hat, haben ihr viele Frauen* gar nicht so sehr von ihrer depressiven Episode erzählt, sondern von Hitzewallungen, Schlafstörungen und anderen typischen Wechseljahresbeschwerden.
Vor drei, vier Jahren hat aber keine*r in Deutschland über diese Themen gesprochen. Also darüber, dass die Wechseljahre mehr als ein Jahr Hitzewallungen sind und dass sie nicht erst irgendwann mit 50 passieren. Deshalb wussten wir zu dem Zeitpunkt schon, dass das ein großes Thema ist. Ein weiterer Faktor war eine persönliche Erfahrung von mir, bei der ich mich sehr unvorbereitet gefühlt habe.
Wie krass ist es, dass man mit Ende 30 das Thema Wechseljahre gar nicht auf dem Schirm hat?
Mit Ende 30 hatte ich einen Kinderwunsch und war bei einer Ärztin. Ich hatte Herzrhythmusstörungen und sie konnte nicht herausfinden, was die Ursache dafür ist. Die Ärztin hat es damals auf Psychosomatik oder auf Hormonschwankungen zurückgeführt, dabei war die Perimenopause die Ursache. Wie krass ist es, dass man mit Ende 30 das Thema Wechseljahre gar nicht auf dem Schirm hat? Die Wechseljahre können in dem Alter beginnen und man ist total mies informiert. Kann man noch Kinder bekommen? Was bedeutet das alles? Ist das jetzt das Ende aller Zeiten?
Zudem haben wir gesehen, wie viel Unwissenheit es auf dem Markt gibt. Zu diesem Zeitpunkt gab es nur einige wenige Early Adopter in Deutschland, wie zum Beispiel Miriam Stein und einige andere Frauen*, die sich stark für das Thema einsetzten. Uns wurde klar, dass die Wechseljahre ein richtig großes Thema sind und wir haben uns mit der ökonomischen Perspektive beschäftigt. Mittlerweile sind wir zu dritt, Rajesh Sharma ist als Tech-Stratege und Co-Founder im Sommer 2024 dazugekommen.
Frauen* verbringen global gesehen im Durchschnitt 25 Jahre in schlechterer Gesundheit als Männer*.
Der Gender Health Gap beschreibt die geschlechtsspezifischen Unterschiede in der Gesundheitsversorgung, Forschung, Wahrnehmung und Behandlung von Frauen* und Männern*. Durch diese Lücke werden Frauen* oft schlechter oder anders behandelt als Männer*. Das Problem am Gender Health Gap kann man gut an verschiedenen Beispielen zeigen. Es gab Anfang letzten Jahres eine Studie des “World Economic Forum” zusammen mit “McKinsey”, die herausgefunden hat, dass Frauen* global gesehen im Durchschnitt 25 Jahre in schlechterer Gesundheit verbringen als Männer*. Das betrifft alle frauengesundheitlichen Themen.
Nur wenige Frauen* wissen, welche Auswirkungen und Folgen die Wechseljahre haben können. Sie haben beispielsweise langfristig Einfluss auf die kardiovaskuläre Gesundheit und die Knochengesundheit. Das mittlere Alter ist somit für Frauen* ein strategisches Fenster, das sehr wichtig ist für gesundes Altern. Man muss in dieser Zeit richtig für sich sorgen und das ist viel zu wenig bekannt.
Die Wechseljahre sind per se nicht als Krankheit zu definieren, aber sie können Symptome hervorrufen, die einen Einfluss auf die Lebensqualität und verschiedene Bereiche haben. Und man kann super viel machen, um länger gesund zu bleiben: passende Ernährung, Kraftsport, Stärkung der mentale Gesundheit – um nur ein paar wichtige Punkte zu nennen. Das alles ist total eng miteinander verzahnt, wenn man es aus holistischer Perspektive betrachtet. In der Vergangenheit gab es zu wenig Forschung im Bereich der Frauengesundheit und das führt unter anderem dazu, dass es schlechtere Aufklärung und Angebote gibt.
Ja. Man könnte ein wenig provokativ sagen, dass das Thema Frauengesundheit mit weiteren Gaps zusammenhängt. Wenn eine Frau* sich in den Wechseljahren in schlechterer gesundheitlicher Verfassung fühlt, weil sie nicht gut informiert ist und keine guten Angebote bekommt, kann das zum Beispiel bedeutet, dass sie sich in dieser Zeit weniger zutraut und andere Entscheidungen trifft, auch beruflich.
Viele Frauen* im mittleren Alter nehmen beispielsweise nächste Karriereoptionen nicht wahr.
Viele Frauen* im mittleren Alter nehmen beispielsweise nächste Karriereoptionen nicht wahr. Und dabei muss Karriere nicht heißen, den nächsten Step zu machen. Sondern einfach nur, sich einzubringen und präsent zu sein. Aber wie sehr kann ich das überhaupt machen, wenn ich eigentlich die ganze Zeit mit einem extremen Schlafdefizit zu kämpfen habe? So etwas kann dann (je nach Einkommen) zum Thema Gender Pay Gap führen. Und wenn es richtig blöd läuft, kann das zum Ende der Berufszeit auch einen Gender Pension Gap zur Folge haben.
Wer sitzt in entscheidenden Positionen? Wer trifft Entscheidungen über die Verteilung von Geldern? Wo fließt Geld in Forschung? Menschen gucken sich die Bedürfnisse von anderen Gruppen nicht an, wenn sie der Gruppe selbst nicht zugehörig sind. An den entscheidenden Stellen sitzen vor allem weiße Männer*. Deshalb ist es so wichtig, dass Frauen* nicht nur in Führungspositionen im Leadership Level vertreten sind, sondern auch in Top-Entscheidungspositionen.
Und es braucht auch insgesamt mehr Diversität, was das Alter betrifft und die kulturelle Herkunft, um alle Themen berücksichtigen zu können. Frauen* hatten und haben relativ wenig Mitspracherecht. In der Gynäkologie sind im Studium zum Beispiel sehr viele Medizinstudentinnen, später in den entscheidenden Funktionen und Rollen sind aber fast keine Frauen*.
Meine Vision ist, dass Frauen* selbstbestimmt sind, gut informiert und die richtige Guidance bekommen
Ich wünsche mir, dass die Wechseljahre in zehn Jahren kein Tabuthema mehr sind. Dass man sich damit nicht verstecken muss und wir gute Umgangsformen damit gefunden haben. Ich wünsche mir, dass Frauen* sich empowered fühlen und richtig gut über ihren Körper in allen Phasen Bescheid wissen. Wir sammeln immer mehr Daten, das heißt, es wird sich in den nächsten Jahren viel in der Forschung tun und auch an Therapie- und Unterstützungsangeboten. Meine Vision ist, dass Frauen* selbstbestimmt sind, gut informiert und die richtige Guidance bekommen. Und dass wir Frauen* global gesehen nicht mehr 25 Jahre in schlechterer Gesundheit leben müssen.
Collage: „Canva“