Will ich Kinder haben? Will ich eine Familie gründen? Ist das ein und derselbe Wunsch, oder sind es zwei völlig unterschiedliche? Und woher kommt das Bedürfnis nach Fürsorgebeziehungen eigentlich? Die Journalistin und Autorin Teresa Bücker analysiert, was die Gründe für ihren eigenen Kinderwunsch sowie den Wunsch nach einer eigenen Familie waren.
Dieser Text ist ein Auszug aus dem Kapitel „Unlearn Familie“ aus dem neuen Sammelband „Unlearn Patriarchy“, herausgegeben von „Folkdays“-Gründerin Lisa Jaspers, Naomi Ryland und Silvie Horch. Zu der Fragestellung, wie wir das Jahrzehnte lang bestehende Patriarchat wieder verlernen können, haben namhafte Autor*innen – unter anderem Emilia Roig, Kübra Gümüşay, Kristina Lunz und Madeleine Alizadeh – bewegende Essays geschrieben. In 15 Kapiteln wie „Unlearn Sprache“, „Unlearn Liebe“ oder „Unlearn Geld“ beleuchten die Beitragenden unterschiedlichste Lebensbereiche. Sie erzählen von ihren eigenen Erlebnissen und zeigen, wie über alle Gesellschaftsbereiche hinweg die patriarchalen Handlungsmuster erkannt und gebrochen werden können.
Diese Frage habe ich mir immer wieder selbst gestellt und bisher noch keine abschließende Antwort darauf gefunden. Mein eigener Kinderwunsch überraschte mich selbst. Bis etwa Ende 20 dachte ich, dass ich ohne eigene Kinder komplett sein würde. Wenn ich über mein Leben in der Zukunft nachdachte, tauchten dort keine Bilder von mir als Mutter auf. Selbst Familie zu haben, war für mich kein stimmiges Bild. Vielleicht war ich noch dabei, mich von meiner Herkunftsfamilie zu lösen.
Ich konnte mir nicht vorstellen, gleichzeitig Kinder zu haben und frei zu sein. Irgendwann kippte mein Desinteresse an Familie um in einen intensiven Kinderwunsch. Obwohl ich in der Beziehung zu meinem damaligen Partner unglücklich war, wurde mein Wunsch nach einem Kind immer stärker und blieb auch bei mir, als wir uns schließlich trennten. Mein Wunsch, Mutter zu werden, war nicht geknüpft an diesen Mann.
Ich konnte mir nicht vorstellen, gleichzeitig Kinder zu haben und frei zu sein.
Soziolog*innen erklären den Wunsch nach Familie unter anderem mit kulturellen Leitbildern. Wir wünschen uns Familie, weil die Menschen um uns herum auf diese Weise leben. Rückblickend war mein Kinderwunsch ein Verlangen danach, mich liebevoll um eine andere Person zu kümmern. Ich wollte meinem Leben durch eine fürsorgliche Beziehung und, indem ich Verantwortung übernahm, eine größere Bedeutung geben. Die psychologische Forschung zum Lebenssinn stützt meine persönliche Vermutung, denn sie hat herausgefunden, dass Menschen für ein tiefes und stabiles Sinnempfinden unterschiedliche Aufgaben und Interessen brauchen.
Es genügt uns nicht, Sinn vorrangig aus dem Beruf zu ziehen. Der Wunsch nach Familie kann entsprechend dann auftauchen, wenn wir aus unseren bisherigen Alltagsaufgaben zu wenig Lebenssinn ziehen. Doch wie andere junge Erwachsene konzentrierte ich mich lange eher einseitig auf den beruflichen Teil meiner Biographie. Vielleicht unterdrückte ich sogar meine fürsorgliche Seite, weil ich in einer Gesellschaft aufgewachsen bin, die ein solches Verhalten abwertet und davon abweichende Eigenschaften anerkennt. Eine Sorgegemeinschaft aufzubauen, kann jedoch unser Wohlbefinden fördern, weil fürsorgliche Beziehungen unseren Lebenssinn auf ein sicheres Fundament stellen.
Ich wollte meinem Leben durch eine fürsorgliche Beziehung und, indem ich Verantwortung übernahm, eine größere Bedeutung geben.
Der neue Sammelband „Unlearn Patriarchy“.
Mein Kinderwunsch tauchte zudem auf, nachdem ich mir eingestehen konnte, wie sehr ich mir einen eigenen Ort wünschte, den ich mein Zuhause nennen könnte. Mir wurde klar, dass andere Menschen und tiefe emotionale Beziehungen mir ein Gefühl eines Zuhauses gaben. Ich sehnte mich nach Menschen, die sich ebenso um mich kümmern würden wie ich mich um sie. Meine Idee eines Zuhauses ist ein Ort der wechselseitigen und verlässlichen Care-Beziehungen.
Die Sehnsucht, von anderen umsorgt zu werden. Diese Fürsorge wieder zurückzuschenken, verbinden auch viele andere Menschen mit dem Begriff der Familie. Familie ist nicht definiert durch eine bestimmte Personenkonstellation, durch eine Hochzeit oder ein Eigenheim. Familien sind Gemeinschaften und Orte, an denen wir uns und anderen emotionale Sicherheit geben können und einander dabei gleichberechtigt unterstützen, frei zu leben. Einen wichtigen Aspekt, was dieses freie Leben innerhalb einer Familie bedeutet, beschreibt Jasper Nicolaisen in seinem Buch: „Das Recht und die Notwendigkeit, nicht dieselbe Person bleiben zu müssen, ist in queeren Familien ein Wert an sich.“ Freie Familien müssen nicht für immer dieselbe Familie bleiben.
Familien stehen nicht still, sondern verändern sich jeden Tag.
Familie neu zu lernen, kann daher heißen, sie nicht zu begreifen als etwas, das man einmal gründet, sondern über unser Handeln in die Welt zu bringen. Familien formen, erweitern, erneuern sich, indem wir unsere Beziehungen über aktives Tun vor- und miteinander zum Ausdruck bringen. Familien stehen nicht still, sondern verändern sich jeden Tag. Doing Family ist ein wichtiges Konzept, um sich den Handlungsspielraum in bestehenden oder sich gerade zusammenfindenden Familien bewusst zu machen. Familien haben dann fortwährend eine neue Chance, ein guter Ort für ihre Mitglieder zu sein. Es ist eine politische Aufgabe für jeden Tag, allen Familien die nötige Freiheit dafür zu gewähren.
Teaserbild: Paula Winkler