Perfektionismus ablegen: So befreist du dich von unrealistischen Standards

Dr. Kirsten Schlömer verrät im Interview, wie wir Perfektionismus ablegen und eine gesunde Balance wiederfinden können.

Aus Fehlern lernt man – aber was, wenn man sich selbst keine Fehler erlaubt? Perfektionist*innen hegen einen hohen Anspruch an sich und/oder andere, der in der Realität kaum erreichbar ist und lähmen sich damit schließlich selbst. Was zunächst als Antreiber gesehen werden kann, endet häufig in Selbstvorwürfen, Unzufriedenheit und letztendlich in niemals endenden Stressschleifen.

Wir haben mit Dr. Kirsten Schlömer, promovierte Rechtsanwältin und Coachin im beruflichen, privaten und gesundheitlichen Bereich, über diese Kehrseite von Perfektionismus gesprochen: Welchen Preis zahle ich für mein perfektionistisches Denken? Gibt es ein perfektes Ergebnis überhaupt? Und wie finde ich wieder eine gesunde Balance?

femtastics: Wie lässt sich Perfektionismus definieren?

Dr. Kirsten Schlömer: Es gibt nicht die eine Definition von Perfektionismus – er hat jedoch anerkanntermaßen zwei Komponenten. Die eine ist von extrem hohen Zielen und Standards geprägt. Diese können sich in der Erwartungshaltung an sich selbst, aber auch an andere zeigen. Die andere Komponente ist das Streben nach Vollkommenheit und Fehlerlosigkeit. Es ist eigentlich nie schwarz-weiß, sondern ein komplexes, mehrdimensionales Verhaltensgebilde.

Man kann zwischen drei Perfektionismustypen unterscheiden. Der erste Typ ist der selbstbezogene Perfektionismus. Menschen verspüren bei diesem Typ einen hohen Druck, perfekt zu sein, haben wenig Selbstmitgefühl und sind sich selbst gegenüber kritisch eingestellt. Dann gibt es den gesellschaftlich gesteuerten, sozial vorgeschriebenen Perfektionismus, bei dem man den Eindruck verspürt, dass das Umfeld die Ansprüche kreiert. Oftmals besteht ein Gefühl, dass die Menschen intolerant und voreingenommen sind und eine hohe Erwartungshaltung an mich herantragen. Hinzu kommt meist das Empfinden von Hilflosigkeit, als wäre man den äußeren Ansprüchen ausgeliefert. Die dritte Art ist fremdbezogener Perfektionismus, bei dem ich meine hohen Ansprüche auf andere richte. Manchmal werden mit diesen hohen, fast unerreichbaren Standards an andere die eigenen Schwächen kompensiert. Diese drei Typen können auch in unterschiedlichen Ausprägungen koexistieren.

Bei Perfektionismus denken wir häufig an Arbeit. Tritt er auch in anderen Bereichen auf?

Perfektionismus kann in den verschiedensten Lebensbereichen auftauchen. Häufig kommt er bei der Arbeit vor, da diese ein großer Teil unseres Lebens ist und dieser auch an eine gewisse Leistung geknüpft ist. Zudem haben Eltern oft einen Hang zum Perfektionismus, der sich sowohl an die eigene Rolle als Elternteil, aber auch an die Kinder und ihre Leistungen richten kann.

Generell kann man in jedem Bereich Perfektionismus verspüren. Dabei kann es auch sein, dass ich in einem Lebensbereich sehr perfektionistisch bin und in einem anderen weniger.

Generell kann man in jedem Bereich Perfektionismus verspüren. Dabei kann es auch sein, dass ich in einem Lebensbereich sehr perfektionistisch bin und in einem anderen weniger.

Ab wann wird Perfektionismus schädlich?

Wenn das Streben nach Fehlerlosigkeit in einen Zwang umschlägt, wenn negative Folgen wie Stresssymptome auftreten oder sobald ich die Dinge gar nicht mehr fertigstellen kann, da ich nie zufrieden mit einem Ergebnis bin.

Die körperlichen Auswirkungen schleichen sich langsam ein. Es kann mit schlechterem Schlaf anfangen, der sich dann in schlechterer Laune, sinkender Leistungsfähigkeit und abnehmender Motivation zeigt. Das Stresslevel ist erhöht, wodurch man zu Krankheiten neigt. Viele Perfektionist*innen verspüren eine hohe Anspannung und Ängste, manche neigen zu Zwängen oder Essstörungen.

Wo kann man die Ursachen für Perfektionismus verorten? Gibt es bestimmte Persönlichkeitstypen, die eher dazu neigen?

Die Ursachen sind immer multifaktoriell, es gibt nicht die eine Ursache. Ein Teil ist die Genetik, ein weiterer sind die Lernerfahrungen, der Einfluss der Eltern und des Umfelds sowie der gesellschaftliche Druck. Dieser kann durch das profitorientierte System, aber auch durch die Sozialen Medien befeuert werden. Auf Social Media wird eine vermeintlich perfekte Welt vorgegaukelt, in der sich jede*r im besten Licht präsentiert.

Wenn wir uns die Persönlichkeitstypen anschauen, blicken wir auf die Big 5, die fünf Dimensionen unserer Persönlichkeit: Offenheit für Erfahrung, Gewissenhaftigkeit, Extraversion, Verträglichkeit und Neurotizismus. Bei Perfektionist*innen sind häufig sind Neurotizismus und Gewissenhaftigkeit stark ausgeprägt, wodurch die anderen Dimensionen unserer Persönlichkeit meist etwas hintenüberfallen können.

Es gibt zwar keine Studien zu geschlechtsspezifischen Unterschieden, in der Praxis erlebe ich aber, dass bei Frauen* häufig mehr Bereiche betroffen sind, gerade da sie häufiger in einer Mehrfachbelastung durch Care Arbeit und Beruf stecken. Es sind außerdem eher die leistungsorientierten und verantwortungsreichen Berufsgruppen, in denen Perfektionismus eher vorherrscht: Medizin, Recht, Wirtschaft oder Leistungssport.

Bei Perfektionist*innen sind häufig sind Neurotizismus und Gewissenhaftigkeit stark ausgeprägt, wodurch die anderen Dimensionen unserer Persönlichkeit meist etwas hintenüberfallen können.

Wie kann ich selbst erkennen, dass ich zu ungesundem Perfektionismus neige?

• Koppelst du deinen Selbstwert an deine Erfolge und Leistungen?

• Bist du detailverliebt und versuchst, jede Eventualität zu berücksichtigen?

• Denkst du oft in Schwarz-Weiß-Kategorien?

• Machst du Überstunden, wenn du eine Aufgabe noch nicht erledigt hast, auch wenn du dabei über deine Grenzen gehst?

• Kannst du schlecht Abstriche machen und korrigierst Fehler immer sofort?

• Weist du andere gern darauf hin, wenn sie einen Fehler gemacht haben?

• Ist Struktur für dich wichtig?

• Kannst du schlecht mit Kritik umgehen?

• Hast du oft Angst, Fehler zu machen oder zu versagen?

• Schiebst du Dinge ohne erkennbaren Grund öfter auf die lange Bank?

• Neigst du dazu, Dinge schwer abgeben zu können oder kontrollieren zu wollen?

• Vergleichst du dich häufig mit anderen?

• Stehst du häufig unter Druck und bist gleichzeitig erschöpft?

• Ist für dich ein hohes Maß an Einsatz selbstverständlich?

• Stellst du an andere hohe Erwartungen?

• Bist du selten mit etwas zufrieden, das du gemacht hast?

• Versuchst du manche Dinge erst gar nicht, weil du das Gefühl hast, dass du es eh nicht schaffst?


Ich sehe in meiner täglichen Arbeit, dass die Menschen, die von Perfektionismus betroffen sind, ihre Denkweisen und ihr verhalten selbst oft als normal wahrnehmen. Es ist wichtig, sich klarzumachen, dass daran etwas verändert werden könnte – denn am Ende ist Perfektionismus eine Illusion. Eine Perfektion kann gar nicht erreicht werden, denn was gut ist, ist für jeden anders. Außerdem leben wir in einer dynamischen Welt, in der sich der Anspruch an das, was gut ist, tagtäglich verändern kann.

Fehler sind menschlich und Teil unseres Lernprozesses. Wer eine Fehlerkultur verneint, verschließt sich vor der Weiterentwicklung – aus Fehlern lernt man. Bei Perfektionismus gehen die Spontaneität und die Möglichkeit zur Überraschung verloren. Erstmal ist es etwas Gutes, einen hohen Anspruch zu haben. Durch Ehrgeiz erreichen wir viel, das hat die ganze Menschheit vorangebracht.

Wenn wir jedoch in den Perfektionismus reinkommen, begeben wir uns in etwas Zwanghaftes, ins Tunneldenken. In diesem Stress sind wir nicht mehr zu 100 Prozent leistungsfähig. Auf Anspannung folgt keine Entspannung mehr und wir verlieren unser Leistungsniveau. Hier kann man auch gut differenzieren, ab wann es dysfunktional wird. Ein gesunder Ehrgeiz ist gut, aber sobald die Komponente der Freiwilligkeit verloren geht, wird es lähmend. Perfektionist*innen sehen ihre eigene Leistung gar nicht, wodurch es auch nie zu einer Zufriedenheit kommt.

Wenn ich bei mir dysfunktionalen Perfektionismus wahrnehme, wie kann ich damit umgehen?

Der entscheidende Punkt ist, es zu erkennen und die eigenen Muster aufzuschlüsseln. Dafür muss man sich Ruhe und Zeit nehmen. Anschließend kann man in ein mentales Selbstmanagement übergehen. Das halte ich für den größten Punkt: an den blockierenden Haltungen zu arbeiten, indem man zunächst einen Realitätscheck macht. Man betrachtet die eigenen Überzeugungen von außen und prüft sie auf Wahrhaftigkeit. Anschließend kann man sich alternative Denkweisen überlegen und probieren, diesen zu folgen.

Es ist ein hartes Training, denn man wurde vom eigenen Gehirn über lange Zeit darauf geeicht, so – also in perfektionistischer Weise – zu denken und zu handeln. Man kann eine Pro-Contra-Aufstellung machen und die Vor- und Nachteile abwägen, die eigenen Grenzen erkennen und diese dann auch klar kommunizieren. Es ist auch okay, sich Bereiche herauszupicken, in denen man nach wie vor diese Standards erfüllen möchte, wenn man dafür in anderen Bereichen etwas runterschraubt. Eine 80/20 Herangehensweise kann hilfreich sein – gut ist das neue perfekt.

Was auch wichtig ist: die eigenen Vergleiche stoppen. Wir vergleichen uns nie nach unten, aber es kann helfen, um zu relativieren. Selbstakzeptanz und Selbstmitgefühl sind weitere Schlüssel – die Dinge, die ich nicht ändern kann, hinzunehmen und gut zu mir zu sein, meine Grenzen anzunehmen und mir erlauben, auf mich zu gucken und auch mal zu genießen. Stressabbautechniken wie Yoga und Meditation können außerdem wertvolle Tools sein, um sich zu erden.

Unsere Gesundheit ist mehrdimensional. Die Säulen sind Schlaf, Ess- und Trinkverhalten, Bewegung und soziale Beziehungen. Diese Dinge gehen im perfektionistischen Tunnel oft unter. Indem wir hier wieder eine Balance schaffen, haben wir eine gute Chance, wieder bei uns anzukommen.

Danke für das interessante Gespräch!

Hier findet ihr Dr. Kirsten Schlömer:

Foto: Adobe Stock

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