Sozialarbeiterin Jessica Müller: „Ich kann einfach wahnsinnig gut mit Menschen.“

5. August 2015

Es gibt sie noch, die Menschen mit dem großen Herzen. Eine von ihnen ist die Kölnerin Jessica Müller. Die 42-Jährige betreut tagsüber als Sozialarbeiterin Familien aus Problemstadtteilen und widmet sich abends ihren Gästen am Tresen des „Weißen Holunders“. In der wunderschönen Kneipe schlüpft sie in eine andere Rolle, macht die Bar zu ihrer Bühne und bezaubert alle Anwesenden (wir haben es selbst erlebt). Kein Wunder, dass der Kneipenchef sie vom Fleck weg eingestellt hat, als sie vor ein paar Jahren in die Kneipe ihrer Träume stolperte.

femtastics: Wie ist dein Werdegang?

Jessica Müller: Eigentlich wollte ich nicht Sozialarbeiterin werden. Ich komme aus Bremen und bin sehr oft umgezogen. Ich bin ein sehr unsteter Geist. Mit 17 bin ich zu Hause ausgezogen und habe in einer Wohngemeinschaft auf einem Resthof gelebt. Dann habe ich mit meiner damaligen Freundin in Kassel gewohnt und bin nach der Trennung nach Bali gegangen. Als ich wiederkam, ging es mir blendend. Ich hatte aber weder Job noch Wohnung noch Möbel und bin Ende 2008 nach Köln gezogen. Irgendwie hat es sich ergeben, dass ich in die Sozialarbeit reingerutscht bin.

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Wie kam das?

Das „Reinrutschen“ passiert mir ganz oft, das gehört zu meinem Leben dazu. Ich kann einfach wahnsinnig gut mit Menschen. Es gab ein Vorstellungsgespräch als Quartiersmanagerin, was vom Deutschen Hilfswerk bezahlt wurde. Die haben sich gedacht: Die macht das schon. Nach einer Zwischenstation beim Jobcenter, wo ich mit jungen Arbeitslosen gearbeitet habe, bin ich bei einem Projekt für Langzeitarbeitslose gelandet, was vom Europäischen Sozialfond bezahlt wird. In der Zeit ist meine Freundin, der wichtigste Mensch in meinem Leben, schwer krank geworden und vor drei Jahren an Krebs gestorben. Ich kümmere mich nach wie vor um ihre kleine Tochter. Das hat mich alles sehr an Köln gebunden, deswegen bin ich hier geblieben.

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Das Ziel ist es, sich auf die Kinder zu konzentrieren und zu verhindern, dass sie wie ihre Eltern in die Langzeitarbeitslosigkeit reinschlittern.

Worum geht es bei deiner Arbeit?

Es geht um die Frage, was mit Langzeit-Hartz-4-Empfängern und deren Familien passiert. Da es mit den bisherigen Maßnahmen der Arbeitsvermittlung mäßig bis gar nicht funktioniert hat, wird etwas komplett Anderes versucht. Das Projekt beruht auf Freiwilligkeit. Die Eltern werden dabei in Erziehungsfragen unterstützt. Ich bin eine Art Case-Managerin, die in der Familie arbeitet und schaut, welche Probleme sie daran hindern, Arbeit aufzunehmen.

Was für Probleme sind das?

Ich arbeite mit acht Familien in Köln-Kalk, einem Problemviertel. Eine davon ist beispielsweise eine Sinti-Roma-Familie mit zehn Kindern. Die lassen mich kaum wirklich in die Familie rein. Teilweise sind die Kinder völlig orientierungslos. Die Probleme reichen von Vernachlässigung bis Spielsucht. Das Ziel ist es, sich auf die Kinder zu konzentrieren und zu verhindern, dass sie wie ihre Eltern in die Langzeitarbeitslosigkeit reinschlittern.

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In die Familie zu gehen, ist etwas sehr Intimes – da gehört sicherlich auch Mut zu. Wie hast du das gelernt?

Es ist wirklich extrem schwierig. Entweder kannst du das oder nicht. Du musst dich komplett auf die Menschen und die Situation einlassen. Du muss dich zurücknehmen und gleichzeitig abgrenzen. Vor allem musst du auch aufpassen, dass dich das nicht auffrisst.

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Also viel zuhören, da sein …

… und streng sein …

was dir bestimmt manchmal auch schwer fällt, oder? Was machst du dann?

Mitleid habe ich sehr selten, ich bin eher schockiert und wütend. Ich muss immer eine sachliche Entscheidung treffen, Emotionen haben da wenig Platz. Wir tauschen uns regelmäßig mit den Kollegen aus und besprechen Fälle. So beraten wir uns, wie man mit dem jeweiligen Problem umgeht. Das macht es erträglicher.

Berufe, die keinen direkten Ertrag bringen, werden extrem schlecht bezahlt. Das ist das Blöde an unserem System.

Bist du auch mal wütend auf das System?

Klar. Manchmal weiß ich ganz genau, dass das Jugendamt jahrelang geschlurrt hat. Da redest du teilweise mit den Zuständigen und könntest nur die Hände über dem Kopf zusammenschlagen.

Leider interessieren sich wenig junge Leute für soziale Berufe. Woran liegt das deiner Meinung nach?

Berufe, die keinen direkten Ertrag bringen, werden extrem schlecht bezahlt. Das ist das Blöde an unserem System. Außerdem wird immer im Kultur- oder Sozialsektor gekürzt. Das macht mich extrem wütend.

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Kannst du abends gut abschalten? Oder frisst du die Probleme in dich rein?

Ich gehe in die Kneipe. Das ist tatsächlich der Grund, warum ich im Weißen Holunder arbeite. Hier komme ich auf andere Gedanken und sehe, es gibt auch schöne Sachen. Ich habe andere Menschen um mich, die da einfach gemütlich sitzen und Bier oder Schnaps trinken.

Das heißt, im Weißen Holunder kannst du den Alltag gut ausblenden.

Es ist wie so ein Filter. Ich bin gerne Gastgeber und bewirte gern viele Menschen. Hinter dem Tresen ist für mich wie eine Bühne, da bin ich so, wie ich sein möchte.

Als Kneipenwirtin bist du – ähnlich wie im Job – auch wieder Psychologin.

Voll! Das gehört dazu, auch wenn ich gewisse Geschichten in manchen Momenten vielleicht gerade nicht hören möchte.

Wie bist du zum Weißen Holunder gekommen?

Vor ein paar Jahren bin ich am Geburtstag einer Freundin nachts zufällig in den Weißen Holunder gestolpert. Ich habe mich sofort in die Bar verliebt und schwärmte am Tresen: „In dieser Bar muss ich arbeiten!“ Das hat der Besitzer gehört und gesagt: „Das finde ich auch!“

Wir auch! Danke für das Gespräch, liebe Jessica.

 

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Fotos: Pelle Buys

6 Kommentare

  • Leonie sagt:

    Das klingt nach einer beeindruckenden Frau.
    Ich finds klasse, dass ihr so viele unterschiedliche Berufe, Figuren, Leben, so viele unterschiedliche Frauen portraitiert!
    Vielen Dank für eure Arbeit, weiter so, das sind die richtigen Signale!
    <3

  • Jessie sagt:

    Yeah, weiter so, liebe Femtastics-Mädels! Ein super Interview, danke dafür! Ihr seid ein echter Lichtblick im Netz. Spannende Frauen gibt es überall, endlich erkennt das mal jemand.
    Lieben Gruß!

  • Julia sagt:

    Morgen!
    Ein Mal zum Thema „Jugend und soziale Berufe“: So wenige junge Leute sind es gar nicht, die es in diese Themengebiete verschlägt. Ich wüsste direkt vier Leute aus meinem „inner circle“, die alle entweder Soziale Arbeit studieren oder das Studium abgeschlossen haben und mittlerweile in verschiedenen Bereichen arbeiten.

    Herzlichst

    Julia

  • Julia sagt:

    Der Weiße Holunder ist in Köln in der Gladbacher Str. 48. Bahnhaltestelle Christophstr./Mediapark. Linie 12 oder 15. Es lohnt sich! 🙂

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